Zwischen den Jahren

Wenn Beschleunigung das größte Problem unserer Gegenwart ist, dann ist der 27. Dezember vielleicht die Lösung. Die Zeit „zwischen den Jahren“ beginnt, also jene wundersamen Tage, die uneeeeeeeeendlich laaaaaaaaaangsam vorankriechen, selbst dem Zeiger auf der Uhr scheint kaum mehr der Aufstieg von der 8 hinauf zur 12 zu gelingen, bald schon weiß man nicht mehr, welcher Wochentag gerade ist, man tapst ratlos und sediert durch die langen Stunden, allein der Beginn der Dämmerung scheint noch zu beweisen, dass die Zeit weiterhin vergeht. Ich bin mir ziemlich sicher: Im Kopf von Albert Einstein ist in einem solchen Moment zwischen den Jahren die Idee gereift, dass die Zeit sich unendlich dehnen kann.

Wir spüren diese Dehnung auch deshalb mit allen Fasern, weil sich in den Tagen vor Weihnachten die Zeit inzwischen auf eine fast unheimliche Weise vkrzt. Doch dann, ganz plötzlich, wenn der Koffer nach der Rückkehr vom Weihnachtsbesuch wieder im eigenen Flur steht oder die Familie abgereist ist, bleibt man plötzlich zurück mit sich und seinem gut gefüllten Körper – und dann kommt: nichts. Keine Termine, kein Hunger, keine Arbeit, und das Handy hat man leider schon am 26. leer geschaut. Alles ist Stille. Ja, wer jetzt allein ist, wird es ein paar Tage bleiben. Wer jetzt kein Haus hat, baut sich 2024 keines mehr. Und so beginnen dann „diese schimmernden fünf Tage zwischen den Jahren, in denen das Alte schon zu Boden geröchelt ist und das Neue noch nicht zugeschlagen hat und immer noch alles ganz anders werden kann, nämlich gut.“ So schreibt Nele Pollatschek in ihrem Roman – dort kann man wunderbar nachlesen, wie es dem Helden gelingt, vier dieser fünf Tage in einem seligen Nirwana des Nichtstuns und Aufschiebens zu verbringen, bis er dann am 31. Dezember versucht, in 24 Stunden jedes seiner Probleme zu lösen. Das gelingt natürlich nicht, aber auch da hilft eine weitere praktische Relativitätstheorie Albert Einsteins: „Wenn das alte Jahr gut war, freue ich mich aufs neue und wenn’s schlecht war, dann erst recht.“

Tja, mag sich da Klaus Mann gedacht haben, wenn’s doch so einfach wäre. Liest man seine Tagebücher der Dreißiger- und Vierzigerjahre mit all den Tagen zwischen den Jahren, dann sieht man in die Winkel des Herzens des modernen Menschen: Immer wieder „großes Aufräumen von Papieren“ (27.12.1939), immer wieder „was man hätte machen können“ (31.12.1934), immer wieder „gestern lange über mein Leben nachgedacht“ (27.12.1935).

Ja, die Abwesenheit von allem, was das Leben sonst so erfreulich am Laufen hält und strukturiert, also Termine, Arbeit, Hunger, Konferenzen, Deadlines, Gruppenchats, zwingt einen zwischen den Jahren zur lästigen Beschäftigung mit dem eigenen Seelenzustand. Als Ablenkung empfiehlt sich die Beschäftigung mit neuesten überzeitlichen Entwicklungen: wohin treibt A23a, der eine Billion Tonnen schwere älteste Eisberg der Erde? Und ist der Mond tatsächlich hundert Millionen Jahre älter, als wir dachten? Sollten wir ihm vielleicht die Vertrauensfrage stellen?

Und wenn all das nicht hilft: Versuchen Sie bitte zu verstehen, wer überhaupt diesen überfordernden Schwebezustand zwischen den Jahren erschaffen hat. Es rumpelte nämlich in der Spätantike, als sich, sehr kurz gefasst, das Christentum und die römische Verwaltung auf einen einheitlichen Kalender für den Jahresbeginn einigen mussten: Immer blieben ein paar Tage übrig. Und mit denen müssen wir uns nun die nächsten hundert Millionen Jahre rumschlagen.

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