Zieht euch warm an

Viel war von Anmut die Rede, von unvergleichlicher Schönheit. Wohl keine andere Skulptur der europäischen Kunstgeschichte wurde ähnlich bewundert wie die Medici- eine Statue der griechischen Antike, die seit der Renaissance immer wieder von Künstlern nachgeformt worden ist. Es handele sich um „eine der reinsten und erhabensten Inkarnationen der Frau, die man sich vorstellen kann“, befand der Kunstkritiker John Ruskin noch im 19. Jahrhundert, und bald schon gehörte eine kopierte zur Grundausstattung vieler bürgerlicher Haushalte. Eine dieser Kopien fand sich zuletzt auch in Berlin, im Foyer des Bundesamts für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen. Bis die im vorigen Sommer verschwand. Weil man ihre innig gepriesene Schönheit nicht länger ertragen mochte.

Genauer gesagt ertrug man ihre Nacktheit nicht mehr, wie gerade die und andere Zeitungen mit einiger Erregung berichten. Die Liebesgöttin könne als sexistisch empfunden werden, es gebe Handlungsbedarf, befanden die Gleichstellungsbeauftragten des Amts. Und ließen die Bronzefigur kurzerhand abtransportieren. Zu nackt fürs 21. Jahrhundert.

Zwar war die Gegenwart nie unbekleideter als heute (siehe Werbung, siehe Internet), dennoch – oder gerade deshalb – soll die Kunst einer neuen Schamkultur gehorchen. Das kann man sehr sonderbar finden und muss dennoch den Gleichstellungsämtern dankbar sein. Denn erst jetzt, der Prüderie sei Dank, erreicht der eigentliche Skandal dieser Kunstgeschichte eine breitere Öffentlichkeit.

Die so stellt sich heraus, gehörte einst dem zweitmächtigsten Mann im NS-Staat, dem Reichsluftfahrtminister Hermann Göring. Zusammen mit vielen anderen Kunstwerken verwahrte er sie in seinem Landsitz Carinhall in der Schorfheide, wo sie bei Kriegsende von Görings Gehilfen in den nahe gelegenen Großdöllner See geworfen wurde. Da lag sie, setzte Algen an, bis sie nach dem Ende der DDR gewissermaßen neu geboren wurde, aus den Tiefen des schäumenden Sees geborgen. Ein Nachguss des frühen 18. Jahrhunderts – von dem bis heute niemand weiß, wie er eigentlich in Görings Besitz gelangt war. Womöglich ein Fall von Raubkunst?

Manche Forscher vermuten, die könnte ein Geschenk Benito Mussolinis gewesen sein, des italienischen Diktators, der 1937 auf Carinhall zu Gast war (und zum Ehrenmitglied im Reichsbund Deutsche Jägerschaft ernannt wurde). Die Originalskulptur befindet sich heute in Florenz, in den Uffizien, da könnte es für Mussolini nahegelegen haben, dem Kunstliebhaber Göring ein Geschenk aus der Heimat mitzubringen.

Nicht minder wahrscheinlich ist es jedoch, dass die Skulptur durch die Vermittlung eines französischen Kunsthändlers aus Paris nach Carinhall gelangte. Das zumindest lässt die bisherige Provenienzforschung vermuten, die von der Kunstverwaltung des Bundes veranlasst wurde. Demnach stammen gleich mehrere Stücke aus der Göring-Sammlung ursprünglich von dem Pariser Händler Jean Schmit, der für eher dubiose Geschäfte bekannt war. Nach dem Krieg führten ihn amerikanische Ermittler in ihrer , einer Kartei der wegen Kunstraub Verdächtigen. Hier wird über Schmit auch vermerkt, er habe Raubgut von jüdischen Familien angekauft, was der Händler bestritt.

Sollte sich der Verdacht nun erhärten, sollten gar, aufgewirbelt durch den Nacktskandal, die Erben ehemaliger Besitzer der ihre Ansprüche anmelden, wäre endgültig klar: Ein Kunstwerk wie dieses eignet sich nicht wirklich, um Behördenmitarbeiter bei ihrem Gang in die Mittagspause zu erfreuen. Die ist ein Zeugnis deutscher Schuldgeschichte. Und beides, ihre Schönheit wie ihre Schrecklichkeit, kann nun zum Glück andernorts angemessen gewürdigt werden: im Leipziger Grassi Museum, der neuen Heimat der Göttin.

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