Wo die Kommune 1 ihre Kohle machte

Berliner, die westlich vom Tiergarten wohnen, kommen beim Einkaufen irgendwann an einen Ort, wo Widerwillen sie packt. Unter den liebevoll verniedlichten Plätzen in Berlin – Kotti, Nolli, Helmi, Olli – gilt der Stutti als besonders fies und öde, als gesichtslos, ja räudig. Lange schon ist er ein Synonym für Gentrifizierungsresilienz. Keiner mag ihn, außer der Schweizer Journalist Michael Angele, der nun ein überraschendes Stück Berliner Stadtgeschichte liefert, indem er die dämmrige Aura des Stuttgarter Platzes in Charlottenburg erhellt.

Der Stutti steht noch immer für Bars und Absteigen, für Alkoholleichen, Drogen und kleine Geldwäsche. Einst gutbürgerlich, ereilte den Ort schon vor dem Krieg der Niedergang. Durchreisende und Gestrandete schlugen hier auf, Pufflatscher, Dealer, Studenten und Migranten jedweder Herkunft. Heute mischen sich Junkies und osteuropäische Obdachlose unter die Passanten, der Straßenstrich ist allerdings verschwunden. Umgeben von adretten Wohnstraßen, öffnet sich dort ein Fenster in Berlins großstädtische Wirklichkeit hinein – ein „deutscher Platz“, wie der Untertitel ihn nennt, ohne Mythos, aber mit erzählenswerter Geschichte.

Angele hat sein Buch nicht als gemütlicher Lokalhistoriker geschrieben, sondern als Reporter, der viel telefoniert hat und fleißig herumgestromert ist. Ihn interessiert, wer von diesem Ort angezogen wurde und eine Zeit lang – nie für länger – dort lebte. Er porträtiert den Stutti als Kreuzungspunkt metropolitaner Energielinien: Sex, Geld, Politik, Gegenkultur und polizeiliche Kontrolle. Ob dies ein „deutsches“ Muster ergibt? Auf jeden Fall kondensierte dort West-Berlin und was davon übrig blieb.

Berühmt wurde der Stuttgarter Platz, als sich die Kommune 1 an der Ecke Kaiser-Friedrich-Straße in einer riesigen Altbauwohnung einrichtete. Die Umgebung passte zu 1968 ff., der antibürgerliche Glanz zog auf magnetische Weise Journalisten aus der gesamten Republik an. Dass es in der Kommune 1 spießig zuging, wissen wir, aber ein paar neue Details fördert Angele zutage: Dieter Kunzelmann führte den Laden bürokratisch als PR-Agentur in eigener Sache – und als Einnahmequelle. In der Küche mahnte die Reporter ein Schild: „Erst blechen, dann sprechen“. Die sexuell befreiten Bürgerkinder hielten im Übrigen sorgsam Abstand zum Treiben auf der Straße, wo die Geschäfte inzwischen schlecht liefen. Die Erschöpfung der Gegend kündigte sich an.

Wir lernen Kiezgrößen kennen, die einmal ihre prominente Viertelstunde hatten, nun aber vergessen sind. Viele der Bars wurden von Juden geführt; nach dem Krieg hatte es sie als Displaced Persons oder Holocaust-Überlebende nach Berlin verschlagen. Menschenhandel und Drogen kamen erst später, da waren die Juden schon wieder weg. Am westlichen Ende des Stutti leben heute viele Kulturleute: Sie schätzen den Schmuddel in Gehweite, bleiben aber gerne auf ihrer Seite. Damit nicht alles verschwindet, trinkt man sein Bier gelegentlich im Hecht, der letzten alten Kneipe. Die Kulturen haben sich arrangiert, und so kann es eigentlich noch lange weitergehen am Stuttgarter Platz.

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