Wir waren mal eins

Einmal Pakistaner, immer Pakistaner: Jedenfalls sehen das viele, auch mächtige, Inder so. Die Feindschaft zwischen den beiden Ländern hat sich so tief ins nationale Bewusstsein gegraben, dass sie bei jedem Anlass sofort wieder abgerufen werden kann. So auch jetzt, nachdem Terroristen am 22. April im
indischen Teil der Provinz Kaschmir in der Region Pahalgam 26 Menschen,
überwiegend Touristen, ermordet haben. Indien macht Pakistan für diesen
Terrorakt verantwortlich und hat in der Nacht auf Mittwoch dieser Woche neun Ziele in
Pakistan militärisch angegriffen. Angeblich ausschließlich „Terrorcamps“, wie
die Regierung in Neu-Delhi betont. Die pakistanische Regierung wiederum spricht von „Angriffen
auf Zivilisten“ und mindestens 26 Toten. Man habe sich wiederum gewehrt und fünf
indische Kampfflugzeuge abgeschossen, heißt es aus der pakistanischen
Hauptstadt Islamabad. Seitdem gibt es immer wieder Angriffe beider Staaten.

Diese Spannungen sind für viele in Europa und in Deutschland bloß Nachrichten aus einer entfernten Region – für
mich sind sie Teil meiner Geschichte. 

Im Frühjahr 2009 wollte ich nach
Neu-Delhi ziehen, um von dort als Südasienkorrespondent zu berichten. Aber die indische Regierung verweigerte mir die Akkreditierung. Ein
halbes Jahr zuvor, im November 2008, waren zehn pakistanische Männer in der
Millionenmetropole Mumbai mit einem Boot angelandet, hatten sich über die Stadt
verteilt und sie drei Tage lang in Angst und Schrecken versetzt und insgesamt
166 Menschen ermordet – in Hotels, einem beliebten Café, einem Bahnhof, einem
jüdischen Gemeindezentrum. Ich hatte damals vor Ort über den Terror berichtet.

Der damalige indische Premierminister Manmohan Singh war
drauf und dran, militärische Vergeltungsschläge gegen Pakistan anzuordnen, denn
auch damals machte Indien den Nachbarn für den Terror verantwortlich. Die Wut der
Inder war nachvollziehbar, denn hinter dem Anschlag steckte die
Terrororganisation Lashkar-e-Taiba, deren Chef Hafiz Saeed in Pakistan lebte
und der auch nach diesem Terrorakt ein freier Mann blieb, Politiker und
Journalisten empfing und gelegentlich öffentliche Reden hielt. Es lag auch an
den diplomatischen Bemühungen des gerade zum ersten Mal gewählten neuen
US-Präsidenten Barack Obama, Indien von einer Kriegserklärung abzuhalten.

Aber mir wurde damals wegen
der pakistanischen Herkunft meiner Eltern verweigert, in
Indien zu arbeiten. Dabei habe ich pakistanische indische Wurzeln. Wir waren ja mal eins, auch wenn man das
heute in beiden Ländern gern vergessen möchte.

Erst 1947, nachdem die Briten
den Subkontinent nach jahrhundertelanger Kolonialherrschaft verlassen hatten,
kam es zur – gewaltvollen – Teilung: Viele Muslime wünschten sich damals ein eigenes Land,
um nicht von einer hinduistischen Mehrheit dominiert zu werden. Pakistan
entstand, der erste Staat, der auf Grundlage einer Religion erschaffen wurde.

Von vornherein war Kaschmir der größte Streitpunkt
zwischen beiden Ländern
. Denn beide Seiten beanspruchten die Provinz für sich, die bis
zur Teilung ein unabhängiger Prinzenstaat war. Geografisch lag diese
landschaftlich wunderschöne, bergige, an Seen, Wäldern und Wiesen reiche Region
so, dass sowohl eine Zugehörigkeit zu Pakistan als auch zu Indien infrage kam.
Die Bevölkerung war schon damals mit überwältigender Mehrheit muslimisch, regiert wurde Kaschmir aber vom hinduistischen Maharadscha Hari Singh, dessen Urgroßvater die Macht einst mithilfe der Briten erlangt hatte.

Singh wäre ein unabhängiges Kaschmir am liebsten gewesen. Aber das schien aussichtslos. Die Verhandlungen zogen sich hin,
und als es in der Region zu Unruhen kam, zögerte die neue pakistanische
Regierung nicht lange und ließ Kämpfer in Singhs Reich einsickern. Sie schufen
Fakten: Kaschmir gehört zu Pakistan! Singh bat Indien um Hilfe. Die indische
Regierung schickte eine Eliteeinheit, um die Pakistaner aufzuhalten. Im
Gegenzug erklärte Singh sich bereit, auf Unabhängigkeit zu verzichten und
Kaschmir Indien anzuschließen, gegen den Willen seines Volkes.

Noch 1947 kam es zum ersten Krieg zwischen Pakistan und
Indien um Kaschmir. Es gelang der indischen Armee, die pakistanischen Truppen
in der Provinz größtenteils zurückzudrängen. Am Ende gehörte ein Teil Kaschmirs
zu Pakistan, der größere Teil aber zu Indien. Es folgten im Laufe der
Jahrzehnte zwei weitere Kriege um Kaschmir. Kleinere Gefechte mit Toten gibt
es, unbeachtet von der Weltöffentlichkeit, seit Jahrzehnten nahezu wöchentlich. Die
Grenze, „Line of Control“ genannt, verläuft zum Teil mitten durch Dörfer. Das für seine Schönheit so berühmte Kaschmirtal liegt heute auf indischem
Territorium. Pakistan gab seinem Teil wiederum den Namen „Azad Kashmir“, also „Freies
Kaschmir“.

Doch keine Volksabstimmung

Seitdem fragen wir, deren Welt von dieser Krise gespalten wird, wie sie endlich zu lösen wäre. Beide meine Großeltern entschieden sich 1947, von Indien
in den neu gegründeten Staat Pakistan auszuwandern und das Land mitaufzubauen.
Die Geschwister meiner Großeltern jedoch blieben in Indien. Von beiden Seiten erlebte meine Familie so die jahrzehntelange Eskalation des Konflikts – atomare Aufrüstung
und islamistischer Terror inklusive. Lange vorbei ist die Zeit, als die Vereinten Nationen eine Volksabstimmung über die Zukunft der Provinz angeregt hatten. Im Jahr 1949 war das.

Schon damals konnte oder wollte keine Seite in irgendeiner Frage entscheidend nachgeben. Pakistan weigerte sich, seine Truppen vor der Volksabstimmung aus dem von ihm besetzten
Gebiet abzuziehen – aus Angst, Indien würde die Gunst der
Stunde nutzen und sich das Territorium einverleiben. Indien wiederum argumentierte, Singh habe 1947 bereits eine völkerrechtlich bindende
Entscheidung zugunsten Indiens getroffen. Zu einer Volksabstimmung ist es bis heute nicht gekommen.

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