ZEIT ONLINE: Frau Schwesig, wirken die politischen
Verwerfungen, die wir gerade in Ostdeutschland erleben, eigentlich größer oder
kleiner, wenn man sie von Brasilien aus betrachtet?
Manuela Schwesig: () Das ist schwer zu
vergleichen. Brasilien ist ungleich größer und steht vor riesigen
Herausforderungen, wie etwa der Bekämpfung der Armut oder der katastrophalen
Waldbrände im ganzen Land. Was uns eint, das ist der Kampf für Demokratie und
gegen Rechtsextremismus. Aber auch hier sind die Verhältnisse in Brasilien
extremer.
ZEIT ONLINE: Mit Jair Bolsonaro war bereits ein Rechtsextremer
in Brasilien an der Macht. Seine Anhänger stürmten nach seiner Abwahl den
Obersten Gerichtshof, den Kongress und den Präsidialpalast in der Hauptstadt Brasília. Sie haben sich diese Orte angesehen.
Schwesig: Das war ein emotionaler Moment dieser
Reise. Staatspräsident Lula hat mir aus erster Hand von den Geschehnissen am 8.
Januar berichtet. Dass versucht wird, mit Gewalt eine demokratisch legitimierte
Wahl zu verändern, das erscheint uns in Deutschland eigentlich weit weg. Aber
wir haben das jetzt einmal in den USA gesehen, mit dem Sturm auf das Kapitol im
Jahr 2021 – und hier in Brasilien in diesem Jahr. Das führt uns vor Augen, dass
es von Hass und Hetze nicht so weit ist zur radikalen Tat.
ZEIT ONLINE: Wo stehen wir gerade in Ostdeutschland?
Die rechtsextreme Thüringer AfD ist stärkste Kraft geworden. In Sachsen ist das
nur knapp verhindert worden. Am Sonntag droht in Brandenburg eine besonders
radikale Landespartei der AfD die Wahl zu gewinnen.
Schwesig: Ich bin zuversichtlich, dass Dietmar Woidke, dem ich sehr verbunden bin und der ein bodenständiger, beliebter
Ministerpräsident ist, diese Wahl gewinnen wird. Es wird auf jede einzelne
Stimme ankommen. Aber ja, wir stehen in Ostdeutschland vor großen Herausforderungen,
durch das Erstarken der AfD und des BSW. Die Regierungsbildungen sind dadurch
schwierig geworden.
ZEIT ONLINE: Schwierig ist untertrieben. In Thüringen
gibt es kaum realistische Varianten für eine Mehrheitskoalition.
Schwesig: Ich finde es überhaupt nicht
nachvollziehbar, dass die CDU nicht mit Bodo Ramelows Linkspartei spricht. Der
hat seit zehn Jahren bewiesen, dass er ein staatsmännischer Ministerpräsident
ist, anerkannt im Kreis der Ministerpräsidenten. Er hat keine Entscheidungen
getroffen, die auch nur ansatzweise die Demokratie gefährdet hätten. Man
spricht mit Bodo Ramelow nicht, weil er in der Linkspartei ist, aber wenn er
zum BSW wechseln würde, dann könnte man mit ihm eine Regierung bilden? Das
versteht doch keiner.
ZEIT ONLINE: Finden Sie eine Zusammenarbeit mit dem
BSW falsch?
Schwesig: Ich finde es richtig, dass in den Ländern
versucht wird, eine Regierung ohne AfD-Beteiligung zu bilden. Und dafür müssen
alle anderen Kräfte offen sein, weil in diesen polarisierten Wahlkämpfen
Menschen ganz bewusst demokratische Parteien auch deshalb gewählt haben, um
eine Regierung mit der AfD zu verhindern.
ZEIT ONLINE: Dann anders gefragt: Dass Michael Kretschmer versucht, mit dem BSW zusammenzukommen, ist das eine gute Strategie?
Schwesig: Das ist die einzige Möglichkeit, die er
jetzt hat. Ich wünsche ihm viel Erfolg bei der Bildung einer stabilen Regierung
für Sachsen. Ich bin schon sehr froh, dass Michael Kretschmer zu den Leuten in
der CDU gehört, die für eine klare Abgrenzung zur AfD stehen. Das ist ja,
gerade in der Ost-CDU, schon lange nicht mehr selbstverständlich.
ZEIT ONLINE: Wie lange soll das gut gehen, wenn man
sich mit immer unmöglicheren Zusammenschlüssen gegen die AfD stellt?
Schwesig: Es geht nicht um eine Regierung gegen die
AfD. Es geht um eine Regierung ohne die AfD. Die Wahlen zeigen erneut, dass
sich die Menschen in Zeiten dieser Polarisierung hinter den
Ministerpräsidentinnen oder Ministerpräsidenten versammeln. Bei Bodo Ramelow
hat das nicht geklappt, weil er in Konkurrenz zum BSW stand.
ZEIT ONLINE: Klar ist aber, dass bei vielen der
Gedanke verfängt, die AfD sei die einzige Alternative.
Schwesig: Meine Erfahrung ist, dass die Menschen von
uns etwas ganz anderes erwarten. In diesen Zeiten der Sorgen, der
Unsicherheiten, der internationalen Krisen, Kriege und Konflikte wollen sie
Zusammenhalt in der Politik. Und es gibt noch eine andere Sache, die die
Menschen zu den Populisten von AfD und BSW treibt.
ZEIT ONLINE: Welche denn?
Schwesig: Viele in Ostdeutschland denken anders über
den russischen Angriffskrieg. Es gibt viele, die die Waffenlieferung an die
Ukraine ablehnen. Ich habe bereits im April 2022 meiner Partei gesagt: Wenn wir
uns klar an die Seite der Ukraine stellen, die militärische Unterstützung befürworten,
wenn wir unseren Kurs gegenüber Russland ändern, was ich für absolut richtig
halte, dann werden wir zwischenzeitlich Wähler verlieren.
ZEIT ONLINE: Also jene Leute, die Sie lange Jahre in
Mecklenburg-Vorpommern mit ihrer russlandfreundlichen Politik an die SPD
gebunden hatten?
Schwesig: Ich bin dafür eingetreten, im kritischen
Dialog zu bleiben, für eine wirtschaftliche Kooperation mit Russland. Das war
auch die Linie der Bundesrepublik Deutschland. Und die große Mehrheit in meinem
Land hat das unterstützt.