DIE ZEIT: Herr Mair, Sie sind im Jahr 1963 geboren. Vor
welchen Bedrohungen von außen hatten Menschen Angst, als Sie jung waren?
Stefan Mair: Als ich jung war und politisch
sozialisiert wurde, erlebte ich die Hochphase der Nato-Nachrüstungsdebatten und
den Beginn der Friedensbewegung. Damals gingen große Massen auf die Straße und
hatten eine Riesenangst davor, dass der Dritte Weltkrieg unmittelbar
bevorsteht.
ZEIT: Wovor sollten die Deutschen
heute mit Blick auf die sicherheitspolitische Lage Angst haben?
Mair: Also, Angst haben sollten sie
eigentlich gar nicht.
ZEIT: Welche Reaktion sollten
Bedrohungen stattdessen auslösen?
Mair: Statt Ängsten sollten wir einen
realistischen Blick auf die Risiken entwickeln. Und wir sollten nicht vergessen:
Wir haben einiges im Kreuz, um mit diesen Risiken fertig zu werden.
ZEIT: Was sind aktuell die größten geopolitischen
Risiken für Deutschland?
Mair: Sicherheitspolitisch gesehen, dass
Putin im russischen Krieg gegen die Ukraine seine Ziele erreicht. Das hieße,
dass er die Ukraine zu einer Art Vasallenstaat umformt und seine Einflusssphäre
in Europa immer weiter ausbaut. Und das größte wirtschaftliche Risiko sind die
Handelskonflikte. Wir nähern uns dem 9. Juli. Bis zu diesem Tag sind die extrem
hohen Zölle der USA gegen die EU ausgesetzt. Die Unsicherheit im Handel wächst.
ZEIT: Über welche Risiken sprechen wir in Deutschland noch zu wenig?
Mair: Es gibt eine Reihe weiterer Risiken mit großem
Schadenspotenzial, etwa das Eintreten sogenannter Kipppunkte beim Klimawandel,
eine außer Kontrolle geratene KI oder das Auftreten einer noch tödlicheren Pandemie.
Mittlerweile werden sie zumindest in den jeweiligen Fachgemeinden intensiv
diskutiert. Viel schwieriger ist es, die sogenannten zu
erkennen. Hier helfen Methoden, wie beispielsweise das ,
Sensibilität für weit entfernt scheinende Risiken zu entwickeln und deren
Entwicklungsdynamiken einzuschätzen.
ZEIT: Das Wort ‚Risiko‘ wird auf das
altitalienische Wort für Klippe zurückgeführt. In der Seefahrt galt es,
Klippen zu umschiffen. Ist mit dem Erkennen von Risiken auch immer schon die
Idee der Beherrschbarkeit verbunden?
Mair: Ja, unbedingt. Ein Risiko ist
etwas, das eintreten und dann Schaden verursachen kann. Die zwei klassischen
Kriterien bei der Beurteilung von Risiken sind Eintrittswahrscheinlichkeit und
Schadensgröße. Risiken zu erkennen, gibt mir die Möglichkeit, rechtzeitig zu
handeln. Ich kann das Eintreten verhindern oder den Schaden zumindest eindämmen.
ZEIT: Im Jahr 1986 wurde das Buch vom Soziologen Ulrich Beck im Zuge der Atomkatastrophe von
Tschernobyl zum Bestseller. Beck war überzeugt: Moderne Gesellschaften
generieren Risiken schneller, als sie diese verstehen und beherrschen können.
Wie sehen Sie das?
Mair: Es wird uns nie gelingen, uns für
alle Risiken zu rüsten. Wir können nicht alle Risiken beherrschbar machen, aber
mehr davon in den Griff bekommen. Die Erwartung, wir könnten eine risikofreie
Gesellschaft werden, steht im gewissen Widerspruch zur Idee einer
pluralistischen, freien Gesellschaft. Das wird uns nie gelingen. Es sollte uns
vielleicht auch nie gelingen.
ZEIT: Der US-Präsident Franklin D. Roosevelt sagte
1933 während der großen Wirtschaftskrise Er sah es gewissermaßen auch als eine staatliche Aufgabe, den Bürgern
Angst zu nehmen. Steht der deutsche Staat heute vor ähnlichen
Herausforderungen?
Mair: Ja. Wir dürfen Bedrohungen nicht
verschweigen, sondern müssen sie klar benennen und klarmachen: Wir haben Mittel
gegen diese Bedrohungen. Das Problem ist: Seit über 20 Jahren rutschen wir von
einem Bedrohungsgefühl ins nächste. Die Anschläge vom 11. September 2001 lösten
Angst vor Terrorismus aus. Die Finanzmarktkrise ab 2007 und die folgende
Eurokrise gaben uns das Gefühl, der ganze Wohlstand sei bedroht. Dann kam die
sogenannte Migrationskrise, dann Covid-19, direkt danach der Angriffskrieg auf
die Ukraine. Und ich kann diese Ängste nachvollziehen. Aber gleichzeitig würde
ich sagen: Ja, wir haben diese ganzen Krisen gehabt, aber haben sie als
Gesellschaft auch weitgehend bewältigt.
ZEIT: Welche Fehler hat Deutschland
im Umgang mit Ängsten und Risiken gemacht?
Mair: Wir Deutschen haben Risiken
ausgeblendet und übersehen, dass die Geschichte noch nicht vorbei ist. Wir
haben in den Neunzigern vergessen, dass es Regierungsführer gibt, die nicht davor
zurückschrecken, mit militärischer Gewalt ihre Ziele zu erreichen. Im Februar
2022 haben wir das auf drastische Weise gelernt. In unserer Berliner Hauptstadtblase neigen wir dazu, einige
Risiken nicht wahrzunehmen. Viele davon bewegen Leute aus anderen Regionen und
Milieus viel stärker als uns. Deshalb müssen wir in Zukunft mehr in den
Austausch mit anderen gehen.