„Wir dürfen uns in der Nähe der Apokalypse nicht wohlfühlen“

ZEIT ONLINE: Marko Martin, da man in diesen Tagen gar nicht mehr weiß, wer an welchem Punkt der Geschichte plötzlich aufschreckt und wer abwinkt und sagt „War doch lange klar“: Was ist aus Ihrer Sicht in der vergangenen Woche mit Europa passiert, also durch Donald Trumps Ukrainevorstoß und auch J. D. Vance‘ Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz?

Marko Martin: Es sieht so aus, als wäre die Katastrophe mit Ansage eingetroffen. Die Republikaner haben ja schon vor dem Wahlsieg keinen Hehl daraus gemacht, dass sie an liberale Werte weder in der Innenpolitik noch in der Außenpolitik glauben. Es gilt das Recht des Stärkeren, und es geht darum, wer von wem profitiert. All das war absehbar, und es hätte auch absehbar sein können, dass Trump auf einen Wahlsieg zusteuert. Und man hat eben versäumt, sich darauf wirklich vorzubereiten.

ZEIT ONLINE: Aber wäre eine solche Vorbereitung überhaupt möglich gewesen, auch und vor allem militärisch? Wie will man angesichts der deutschen Debattenkultur mit Elitenverdruss und Präventionsmüdigkeit Mehrheiten für unpopuläre Themen finden wie Waffenlieferungen oder eigene Aufrüstung, bevor es buchstäblich brennt?

Martin: Man hätte natürlich erst mal auf die Frauen und Männer hören müssen, die der amtierende Bundespräsident noch letztes Jahr als „Kaliberexperten“ beschimpft hat, also Menschen wie Claudia Major, Constanze Stelzenmüller, Gustav Gressel, Marcus Welsch oder Carlo Masala, die uns genau gesagt haben, welche Munition etwa die Ukraine braucht, um dann bei möglichen Verhandlungen aus einer Position der Stärke heraus agieren zu können. So hätte man verhindern können, dass der Waffenstillstand wieder zur Vorstufe eines neuen Krieges wird, wie es damals bei Minsk I und II passiert ist …

ZEIT ONLINE: … dem Protokoll beziehungsweise dem Abkommen, das nach 2014 den Frieden in der Ostukraine sichern sollte.

Martin: Genau, man hat ja alles vor sich gehabt. Doch wenn ich sage, man hätte auf diese Militär- und Statistikexperten hören sollen, denke ich gleich mit, was das für ein Stirnrunzeln im Land gibt. Dabei ist es doch so banal: Eine zivile Gesellschaft lässt sich nicht allein mit zivilen Mitteln verteidigen, und wenn die Ukraine fällt, wird sie zum Dominostein. Das hätte man kommunizieren können – aber außer ein paar Eruptionen von Zeitenwende- und Kriegstüchtigkeitsrhetorik war nichts zu hören. Wie aber auch, wenn selbst der Bundespräsident so stark an den Fehlern der Vergangenheit beteiligt war?

ZEIT ONLINE: Nun ist es ja aber nicht so, dass die von Ihnen genannten Stimmen keine Öffentlichkeit hätten. Es gibt nur erhebliche Gegenkräfte. Sie selbst haben in der Vergangenheit diverse Wahrnehmungsdefizite in der Bevölkerung adressiert – die geopolitische Arroganz der Westdeutschen, die beleidigte Selbstbezogenheit der Ostdeutschen. Haben wir – als Deutsche – nicht eher ein kollektives Mentalitätsproblem? Und falls ja, sehen Sie dafür Lösungen?

Martin: Lösungen habe ich nicht und man sollte jedem Schriftsteller und jedem Intellektuellen misstrauen, der jetzt mit Lösungen um die Ecke kommt. Aber ich frage mich, warum wir ein viel geringeres Gefahrenbewusstsein haben als die Demokratien Osteuropas …

ZEIT ONLINE: … die aber auch viel unmittelbarer bedroht sind.

Martin: Und trotzdem kann Deutschland sich nicht sicher fühlen. Ich glaube, in Deutschland ist es bis heute so, dass da Fermente des Nationalsozialismus vorhanden sind, auch bei jenen, die das weit von sich weisen würden. Unbewusst schenkt man nämlich immer noch eher dem Aggressor – in diesem Fall jetzt Russland – Verständnis für dessen Wunsch, „sein Gesicht zu wahren“ und „die eigene Einflusssphäre zu schützen“. Darunter leidet dann auch das emotionale und analytische Verständnis für das angegriffene Land.

ZEIT ONLINE: Meinen Sie, dass Deutschland selbst noch verhaftet ist im Großmachtdenken?

Martin: Nein, aber wenn die Deutschen so schnell und abstrakt von Frieden sprechen, artikuliert sich darin vor allem der Wunsch, in Frieden gelassen zu werden – und gegebenenfalls die Ukraine zu opfern. Daneben existiert natürlich nach wie vor eine riesige Hilfsbereitschaft, und diese ist auch ganz entscheidend. Aber genauso entscheidend ist das Unwissen darüber oder der Unwille anzuerkennen, dass Freiheit und Frieden selbstverständlich militärisch abgesichert werden müssen, und zwar im Sinne nicht nur des Reagierens, sondern auch im Sinne einer rationalen Abschreckung.

ZEIT ONLINE: Es geht also eher um Selbstverzwergung?

Martin: Auch damit wäre ich vorsichtig. Es geht darum, dass die Länder, die zwischen Deutschland und Russland liegen, als „Territorien“ behandelt werden – im Zweifel solche der russischen Einflusssphäre – und darüber hinaus nicht wirklich anerkannt werden, noch nicht einmal als Opfer der Nazis. Die Erzählung nämlich ist, dass Deutschland vor allem Russland viel Leid zugefügt hat und deshalb jetzt vorsichtig agieren müsse. Da mischt sich selektives Erinnern mit heutigem Kalkül. Hinzu kommt noch allerlei Russlandkitsch, und dieses ganze Gemisch führt zu dieser indifferenten Haltung. Das ist natürlich ebenfalls schon seit Jahr und Tag analysiert worden – ich denke da zum Beispiel an die Bücher von Gerd Koenen und Karl Schlögel. Und ich sage also hier – genau wie damals in meiner Rede in Bellevue – überhaupt nichts Neues. Doch deprimierenderweise muss man immer auf das bereits Erforschte, Analysierte und Durchdachte hinweisen, weil Bräsigkeit und eine durchaus aggressive Ignoranz davon nichts hören wollen.

ZEIT ONLINE: Liegt darin auch etwas, was man analog zur Wohlstandsverwahrlosung eine Art Freiheitsverwahrlosung nennen könnte?

Martin: Ja, ich glaube durchaus, wobei das natürlich ein großes, großes Thema ist und viele Köche beteiligt sind.

ZEIT ONLINE: Also nicht nur Sahra Wagenknecht und Alice Weidel?

Martin: Die natürlich auf besondere Weise. Aber wer stellt sich ihnen entgegen und verteidigt unsere Ordnung? In den letzten Jahren haben wir zum Beispiel aus woker, progressiver Perspektive oft gehört, dass der Liberalismus lediglich dazu diene, um Sklaverei und systemischen Rassismus zu kaschieren, dass die Freiheit selbst im Grunde nur wenig gelte und eher eine Ideologievokabel sei. Das wurde zum Teil durchaus in aufklärerischer Absicht gesagt. Letztendlich aber ist solcher Pauschalisierung und rechthaberischen Rhetorik die Konsequenz mit eingeschrieben, dass sich viele von der in dieser Art beschriebenen – und ich würde sogar sagen: denunzierten – konkreten Freiheit abwenden.

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