Das 18-seitige Provokationspapier zur „Wirtschaftswende Deutschland“ von FDP-Chef Christian Lindner (45) hat parteiübergreifend heftige Reaktionen ausgelöst. Ampel-Partner sprechen von „Nebelkerzen“. Die Opposition nennt das Lindner-Papier ein „Kündigungsschreiben“.

Grünen-Fraktionsvize Andreas Audretsch (40) kritisierte bei „t-online“: „Das Papier ist eine Nebelkerze. Wichtiger wäre es, dass sich der Finanzminister um den Haushalt kümmert. Die Lindner-Lücke liegt schon jetzt im zweistelligen Milliardenbereich.“ Es sei wichtig, „dass sich der Finanzminister nun ernsthaft dieser Verantwortung stellt und konstruktive Vorschläge macht.“

Grünen-Parteichef Omid Nouripour (49) betonte bei „ntv“: „Wir Grüne sind jederzeit bereit, ernst gemeinte Vorschläge der Koalitionspartner zum Wohle unseres Landes zu diskutieren. Zum Ergebnis kommt man am Ende dann, wenn die Vorschläge der Ernsthaftigkeit der Lage gerecht werden.“

„Phrasendrescherei“

Auffällig: Wer SPD-Abgeordnete offiziell fragt, bekommt immer dasselbe: die offizielle Sprachregelung von Partei- und Fraktionsspitze. Herausgegeben noch am späten Freitagabend – in der Hoffnung, das Problem lasse sich übers Wochenende schleppen – oder gar bis zum ohnehin geplanten Koalitionsausschuss am Donnerstag.

► Etwa Fraktions-Vize Dirk Wiese (41), sonst eher von der Klartext-Fraktion: „Mit Olaf Scholz ist Industriepolitik in dieser Regierung Chefsache und das ist gut so. Weitere Vorschläge unserer Koalitionspartner liegen auf dem Tisch. Damit erarbeiten wir nun gemeinsame Lösungen für eine Stabilisierung unseres Industrie- und Wirtschaftsstandortes und beschließen einen zukunftsweisenden Bundeshaushalt für das Jahr 2025.“ Aktion „Ruhige Hand“ – als würden nicht längst Hütte und Baum lichterloh brennen.

Weiteres Beispiel: Martin Rosemann (48), arbeitsmarktpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, sagte gegenüber dem „Tagesspiegel“: „Wir brauchen jetzt keine Papiere, sondern gemeinsames Handeln, um der Industrie schnell zu helfen und Sicherheit zu geben“.

Und weiter: „Vor allem brauchen wir keine Opposition in der Regierung.“

SPD-Generalsekretär Matthias Miersch (55): „Nach dem Wirtschaftsminister bringt nun auch der Finanzminister seine Vorschläge in die Debatte ein. Wichtig ist jetzt, dass der Prozess konstruktiv und lösungsorientiert von allen Beteiligten begleitet wird“, erklärte Miersch laut Funke-Mediengruppe.

Der SPD-Abgeordnete Nils Schmid erkennt lediglich eine „neoliberale Phrasendrescherei“. Und in den Punkten, in denen Lindner konkret werde, sei das Papier „nicht vereinbar mit dem Koalitionsvertrag“, sagte Schmid dem „Tagesspiegel“.

CDU: „Kündigungsschreiben Richtung Ampel-Partner“

Für die Opposition ist durch das Papier das vorzeitige Ende der zerstrittenen Bundesregierung noch näher gerückt.

► CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann (47) zu BILD: „Es geht hier um Deutschland. Wir können uns diese Wackelregierung nicht einen Tag länger leisten. In der kommenden Woche wird der amerikanische Präsident gewählt und die Ampel-Regierung weiß nicht, wie es weitergeht.“

„Das Papier liest sich wie ein Kündigungsschreiben Richtung Ampel-Partner“, urteilte Unions-Vizefraktionschef Mathias Middelberg (59). Wenn es dem Minister nicht gelinge, bis zum Abschluss der Haushaltsverhandlungen Ende des Monats die Kernforderungen seines Konzepts durchzusetzen, müsse er „zwingend die Ampel-Koalition beenden“. In der „Welt am Sonntag“ bezeichnete Middelberg das Papier als „Ultimatum“ an SPD und Grüne.

CDU-Wirtschaftspolitikerin Julia Klöckner (51) meint: „Es wird immer unübersichtlicher – jeder bringt sein Positionspapier raus, jeder hat seine eigenen Wirtschaftsrunden, aber nichts passt zusammen“, sagte sie den Zeitungen der Funke Mediengruppe. „Es ist einfach absurd und unwürdig für ein Land mit einer solchen Volkswirtschaft, wie seine Regierung sich benimmt.“ Die Regierung müsse „endlich ins Machen“ kommen – „oder der Kanzler beendet den Spuk“.

„Nackte Verzweiflung über die ausweglose Finanzlage“

► Als „nackte Verzweiflung über eine ausweglose Finanzlage und eine desaströse Lage seiner Partei“ bezeichnet Sebastian Brehm (53), finanzpolitischer Sprecher der CSU im Bundestag, Lindners Schreiben. „Nun versucht er sich wie der Baron von Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen.“ Allerdings seien der FDP-Chef und seine Partei nicht die Lösung des Problems. „Sie sind Teil und Mitverursacher der Probleme, die das Land quälen.“

Thorsten Alsleben (53), Chef der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, zu BILD: „Die Vorschläge von Christian Lindner sind mutig, aber genau das bräuchte die Wirtschaft jetzt für den Aufschwung. Und entweder hat Kanzler Scholz seinen Agenda-Moment wie einst Schröder und setzt das jetzt eins zu eins um, oder diese Regierung hat keine Fortsetzung verdient, weil sie dem Land schadet.“

Kanzleramtsminister und Scholz-Vertrauter Wolfgang Schmidt (54, SPD) hingegen teilte Freitag den X-Beitrag (ehemals Twitter) von Bundesverkehrsminister Volker Wissing (54, FDP), der sich in der „FAZ“ in einem Gastbeitrag für den Fortbestand der Ampel aussprach. „Koalitionen sind nicht einfach. Regieren ist nicht einfach. Demokratie ist nicht einfach. Wir tragen die Verantwortung dafür, dass es gemeinsam gelingt“, schrieb Wissing.

Und Schmidt kommentierte: „Lesenswerter Beitrag des Kollegen @Wissing.“