Ob er sich gut fühle mit seiner Arbeit, und was sein persönliches Umfeld so sage, fragt Daniel Günther an diesem Nachmittag den jungen Mann bei Vincorion in Wedel nahe Hamburg. Er „sehr okay“ mit seiner Tätigkeit, sagt der 26-jährige Facharbeiter, der bei dem Rüstungselektronik-Unternehmen gerade die „Leistungselektronik“ für die Bewegung des Turms und der Kanone in einem Puma-Schützenpanzer montiert. Und in seinem Umfeld gebe es eben Menschen, die das Thema Rüstungsindustrie „so oder so“ sähen.
So oder so muss Deutschland seine Rüstungsanstrengungen innerhalb der Nato erheblich ausbauen. Das weiß Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Günther (CDU) natürlich, als er Vincorion an diesem Tag seinen schon länger avisierten Besuch abstattet. Bis zur Ausgründung und dem Verkauf an den britischen Finanzinvestor Star Capital Partnership im Jahr 2022 gehörte Vincorion zum Konzern Jenoptik im thüringischen Jena. Nun ist Vincorion mit etwa 200 Millionen Euro Jahresumsatz und 800 Mitarbeitern an drei Standorten in Nord- und Süddeutschland eines jener hoch spezialisierten mittelständischen Unternehmen, ohne die in der deutschen Verteidigungswirtschaft nichts läuft. Eines jener Unternehmen allerdings auch, die beim notwendigen Hochlauf der Rüstungsindustrie in den kommenden Jahren finanziell überfordert werden könnten.
Vincorion-Geschäftsführer Kajetan von Mentzingen und einige andere Manager des Unternehmens zeigen Günther die Produktion. Unter anderem fertigt Vincorion Elektromotoren für die Türme und Geschütze auch des Kampfpanzers Leopard und für die Panzerhaubitze 2000 – für die ganz neuen Varianten, und für jene älteren Modelle, die derzeit auch von der ukrainischen Armee eingesetzt werden. In einer der Abteilungen sieht Günther eine neu entwickelte Hochleistungs-Seilwinde, die zunächst für Hubschrauber von Airbus zugelassen werden soll. In Bayern wiederum fertigt Vincorion Systeme für die Versorgung von Feldlagern und auch des Luftabwehrsystems Patriot mit Strom.
Der Arbeitskreis Wehrtechnik Schleswig-Holstein stellte in seinem aktuellen Bericht 2024 kürzlich fest, dass die Unternehmen im nördlichsten Bundesland 2023 unmittelbar in der Rüstungsproduktion rund 8400 Menschen beschäftigt haben. Das seien neun Prozent mehr als 2022, damit sei ein „Allzeithoch“ erreicht. Zum Arbeitskreis Wehrtechnik Schleswig-Holstein zählen Schwergewichte wie die U-Boot-Werft TKMS in Kiel, das Marineelektronik-Unternehmen Atlas Elektronik, der Panzer-Umbau-Spezialist Flensburger Fahrzeugbau und eben auch Vincorion.
Trotz der steigenden Zahlen sieht die Branche in Schleswig-Holstein die deutsche Wehrindustrie und die Politik bislang nicht auf dem richtigen Pfad. „Das bereits verplante 100-Milliarden-Euro Sondervermögen Bundeswehr, der geringe Aufwuchs im geplanten Verteidigungshaushalt 2025 und der nach 2027 erforderliche, jedoch ungeklärte signifikante Anstieg der Verteidigungsausgaben stellen die Zeitenwende und Verteidigungsfähigkeit infrage“, heißt es im Jahresbericht.
Daniel Günther teilt diese Kritik. „Der Begriff der ,Zeitenwende’ kurz nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022 war von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) richtig gewählt. Aber von der Bundesregierung wird diese Zeitenwende noch längst nicht mit Leben gefüllt“, sagte Günther WELT. Dieses Jahr erreiche Deutschland erstmals die den Nato-Verbündeten versprochenen zwei Prozent Rüstungsausgaben des Bruttoinlandsproduktes: „Wenn zumindest diese zwei Prozent Rüstungsausgaben aus dem Bruttoinlandsprodukt erst einmal dauerhaft sichergestellt würden, wäre man schon einen guten Schritt weiter.“
„Äußert zurückhaltend“, wenn es um Anzahlungen für bestelltes Material gehe
Vincorion-Chef von Mentzingen argumentiert noch darüber hinaus. „Wenn Deutschland die Bundeswehr im nötigen Umfang modernisieren und ausbauen will, brauchen wir ein weiteres Sondervermögen von 100 bis 200 Milliarden Euro. Das zumindest spiegeln die Diskussion in der Rüstungsbranche wider“, sagte er WELT. „Mit den ersten 100 Milliarden Euro Sondervermögen werden zu einem großen Teil ja Projekte finanziert, die schon lange vor dem Beginn des Ukrainekrieges geplant und beschlossen waren.“ Auch mit zwei Prozent Rüstungsausgaben des Bruttoinlandsproduktes sei es nicht getan: „Nötig wären mindestens 2,5 bis drei Prozent.“
Auch Vincorion wachse deutlich und suche dringend qualifizierte Mitarbeiter, sagte von Mentzingen. Das Wachstum stamme aber wesentlich auch von Aufträgen aus der europäischen Rüstungsbranche, weniger aus einem nachhaltigen Hochlauf der deutschen Verteidigungsindustrie. Auch liefert Vincorion Ersatzteile für von Deutschland gelieferte Fahrzeuge, die in der Ukraine eingesetzt werden, der Bund fungiert dafür als Zwischenhändler. Darüber allerdings spricht das Vincorion-Management nicht.
Schwierig, sagt von Mentzingen, sei der nötige Hochlauf der Produktion vor allem deshalb, weil er – auch angesichts der hohen Spezialisierung – die Unternehmen sehr viel Geld koste. Der Bund als Auftraggeber, in Gestalt des Bundesamtes für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAIINBw), sei allerdings „äußert zurückhaltend“, wenn es um Anzahlungen für bestelltes Material gehe.
Das wiederum sei zeitkritisch, weil der Ausbau von Rüstungsproduktionen und die Einführung neuer Systeme bei der Bundeswehr ohnehin schon jahrelang dauere. „Wir müssen gemeinsam mit der Politik Mechanismen zum Beispiel für ein System von Anzahlungen bei der Auftragsvergabe finden, um eine wachsende Produktion sinnvoll zu unterstützen“, sagte von Mentzingen. Denkbar sei es zum Beispiel, dass die staatliche KfW-Bank hierbei mit zinslosen Krediten mitwirke.
Auch Daniel Günther versprach zum Abschied seines Besuches mehr Unterstützung für die Branche. „Die wehrtechnische Industrie ist für die nationale Sicherheit von großer Bedeutung, und sie schafft wertvolle Arbeitsplätze und stärkt die technologische Innovationskraft in Schleswig-Holstein“, sagte er. „Wir werden sicherstellen, dass innovative Unternehmen wie Vincorion die Unterstützung erhalten, die sie brauchen, um ihre Arbeit fortzusetzen.“
Und den Mitarbeitern gab er mit auf den Weg: „Laufen sie mit stolzer Brust durch die Welt und erzählen sie anderen Menschen, was sie hier tun.“
Olaf Preuß ist Wirtschaftsreporter von WELT und WELT AM SONNTAG für Hamburg und Norddeutschland. Über die Rüstungsindustrie in Norddeutschland berichtet er seit vielen Jahren.