Kindern wird nicht sonderlich viel
Platz eingeräumt in dieser Welt. Die Politik richtet sich ans alternde
Wahlvolk, und wer interessiert sich schon für Schultoiletten, Kita- oder
Therapieplätze. „Unvereinbar“ ist so ein Wort, das man mit Kindern verbindet, „Care-Arbeit“ ein anderes. In jedem Fall: anstrengend. Kinder fassen alles an,
können und wollen nicht stillsitzen. Weswegen sie auch in Museen nicht gerade
gern gesehen sind. Sollen sie ihr Ding auf dem Spielplatz machen, unter sich.
Es sei denn, diese Kinder leben in München. Dort, wo das Haus der Kunst den
Kindern eine eigene Ausstellung widmet – um ihnen von den Rand- und
Nebengeschichten der Kunst zu erzählen.
Andrea Lissoni, der Museumsleiter, und seine Kuratorinnen fragten Künstlerinnen und Künstler weltweit: Habt ihr jemals daran gedacht, Kunst für Kinder zu machen? Also nicht Kunst zum Thema Kind, sondern wirklich sie oder sogar mit ihnen? Eine Frage, die bisher in der Kunstwelt keine große Rolle spielte, die Suche nach entsprechenden Werken dauerte zwei Jahre. Noch dazu wollten die Kuratorinnen aus München Abstand halten zur allzu simplen Assoziation: Kinder = Spielen. Weil: Kinder = viel mehr als das. Nur was genau?
Die Ausstellung beginnt ihre Erzählung im berühmten Jahr der Umbrüche. Ende der Sechzigerjahre wurden Kinder zum mündigen Publikum und galten nicht länger nur als unfertige Erwachsene. Ihre Unberechenbarkeit und Spontaneität, ihr Hang zum Quatsch und zur Bewegung waren plötzlich erwünscht, eine Sehnsucht der Erwachsenen. In München gründeten Kunstpädagoginnen und -pädagogen die Gruppe KEKS (Kunst, Erziehung, Kybernetik, Soziologie) und machten mit Kindern Kunst und Quatsch im öffentlichen Raum. Sie trauten ihnen mehr als Spielen zu, verhandelten Themen, von denen die Großen bislang dachten, sie hätten sie exklusiv: Politik, Umwelt, Technik, Zukunft und die Frage nach dem Sinn des Ganzen. Das Haus der Kunst zeigt bisher unveröffentlichtes Videomaterial der damaligen Versuche und ließ eine KEKS-Kletterinstallation aus Holz nachbauen.
In Japan lud in den Nachkriegsjahren die Avantgarde-Gruppe Gutai Kinder und Erwachsene zum gemeinsamen Malen ein. Der Japaner Ei Arakawa-Nash reinszeniert jetzt diese Gutai-Performance im Haus der Kunst. Kinder (und Erwachsene) dürfen den heiligen Marmorboden der Mittelhalle bemalen. Nun steht da groß „FURZ“, man sieht erstaunlich viele Flaggen, das unbekannte Kinderkünstlerduo A+B lässt die Welt wissen: „Alle haben Stress aber wir beide sind connect“. Kunst und Quatsch, das merkt man, wenn man über den bekritzelten Marmor geht, sind eine so wichtige wie wohltuende Kombination. Und über den Quatsch, die Flaggen und Worte, senden Kinder Botschaften.
Dass nicht alle stressfrei und connect sind, dass Kindheit keinesfalls Sorglosigkeit bedeutet, wird in der Ausstellung nicht pädagogisch betont oder gar kitschig überbetont, es ist ein selbstverständlicher Teil der Annäherung. Ängste, Traumata, Gefühle der Ohnmacht und des Scheiterns (eine Tischtennisplatte voller Hindernisse) haben genauso Platz wie Traumlandschaften und eine Skulptur zum Skaten.
Besonders rührend und lustig (das
ist ja das Tolle an Kindern, dass sie so lustig sind!) erzählt die
Brasilianerin Rivane Neuenschwander von den unterschiedlichen Realitäten der
Kinder weltweit. Sie fragte Kinder in Workshops nach
ihren Ängsten, ließ sie malen und entwarf mit ihnen zusammen, unterstützt von
zwei Designern, große, bunte, mächtige Umhänge. 26 davon zeigt jetzt das Haus
der Kunst. Sie schützen vor den Ängsten, die die Kinder gemalt hatten. Ängste
wie: Kirche/Eltern verlieren/Würmer (ja, alles in
einem Umhang!), Trennung/Nichts, Coronavirus/Krieg oder auch
Tomaten/Salat/Streit oder Magen-Darm-Grippe/Atomkraftwerke.
Das Unvorhersehbare der Kunst und
die Unvoreingenommenheit der Kinder, sie treffen hier zusammen, als könnte es
nicht anders sein. Als hätten sie schon immer zusammengehört und müssten auch
zusammenbleiben. Die Verspieltheit, die
Neugier, der vertrauende Ernst, die Rasanz, das darf nicht vorbei
sein, nur weil schon die nächste große Künstlerin, der nächste wichtige
Künstler gezeigt werden soll. Es kann nicht darum gehen, die Kinder fürs Museum
zu begeistern. Umgekehrt muss es sein, ganz dringend.