Wenn die Egos aber siegen

Es kommt nicht mehr oft vor, dass die katholische Kirche ins Zentrum der Weltöffentlichkeit tritt. Außerhalb von schrecklichen Skandalen und hohen Feiertagen eigentlich nur in der Zeit zwischen dem Tod eines Papstes und der Wahl eines neuen. So eine Zeit hat nun wieder begonnen. Doch sogar jetzt spürt man in der geneigten und mehr noch in der abgeneigten Öffentlichkeit ein Schulterzucken: Aha, der Papst ist tot. Wozu überhaupt Kirche? Wozu diese? Und wozu heute?

Auf diese Fragen gibt es Antworten, in denen sich das fast Ewige mit dem brennend Aktuellen kreuzt. Antworten, die etwas über diese Kirche sagen und die etwas über den Rest der Welt verraten, besonders der westlichen, in der die Christinnen und Christen, wenn nicht die Mehrheit, so doch zumindest eine beträchtliche Minderheit bilden. In Deutschland sind noch immerhin 19,8 Millionen Menschen katholisch, fast 18 Millionen evangelisch. Diese westliche Welt betrifft das Christentum jedoch nicht nur numerisch in besonderem Maße. Vielmehr hat die Demokratie das Erbe dieser Religion verinnerlicht. Sie hat ihre eigenen Begriffe gefunden, doch die drei wichtigsten Prinzipien sind enge Verwandte: Alle Menschen sind gleich – vor Gott oder vor dem Gesetz. Keine Gemeinschaft ohne Barmherzigkeit – oder ohne Solidarität. Keine Zivilisation ohne Freundlichkeit beziehungsweise ohne Respekt.

Die Demokratie wurde von diesem Erbe lange getragen. Gerade ist sie jedoch dabei, es zu verraten. Das ist die Rahmenhandlung dieser Tage: Während die Kirche ihren Papst beerdigt und seinen Nachfolger sucht, versuchen Teile der westlichen Welt, oftmals schon Mehrheiten, sich das christliche Herz aus dem Leib zu reißen und starten damit ein welterschütterndes Großexperiment: Kann es Demokratie als reine Mehrheitsherrschaft geben, die ohne Gleichheit, Barmherzigkeit und Respekt auskommt?

Kein Trost on demand, keine Erbauung to go

Wozu die katholische Kirche? Wegen ihres Blickes. Die aufstrebende rechtspopulistische Bewegung verspricht, dass jeder Mensch nur auf sich selbst schauen muss. Die Regierung hat ihn mit dem zu beliefern, was er dafür braucht; der Staatsservice bedient Bedürfnisse und Befindlichkeiten. Es ist die Trendantwort auf das große gekränkte Wo-bleibe-ich? Der neue Egoismus ist nicht nur eine Schande, schlimmer: Er ist leer. Dagegen steht das christliche Ideal: Der Mensch schaut auf den Mitmenschen, nicht nur auf sich. Es geht um unser Gegenüber, dessen Recht auf Würde und Unversehrtheit uns eine Verpflichtung ist, die Voraussetzung unseres Glücks. Nicht: Wo bleibe ich? Sondern: Wo bist du? Das ist die Essenz des Glaubens.

Die katholische Kirche besteht seit 2.000 Jahren. Kein Staat auf der Welt und keine andere große Gemeinschaft denkt in dermaßen großen historischen Bögen, die Kirche überspannt einen Teil der Menschheitsgeschichte. Und sie umspannt die Menschheit räumlich, sie ist präsent auf dem ganzen Globus, es gibt fast kein Land ohne katholische Gemeinden. 1,4 Milliarden, das ist schon was. Damit organisiert die Kirche einen wachsenden Grundwiderspruch unserer Zeit: So viel Menschheit – so viele Menschen, so enge Verflechtung, so viel ökologische Schicksalsgemeinschaft – war noch nie. Aber an der institutionellen Form, an der Organisation dieser Menschheitlichkeit hapert es. Darum eignet sich die Kirche sogar als Vorschein auf eine Menschheit, wie sie sein könnte. Ähnlich wie die UN. Mit ebenfalls vielen Fehlern.

Und damit sind wir bei der Frage: Wozu Kirche gerade heute? Die katholische Kirche ist die mit Abstand größte sündige Institution der Welt, in der man freiwillig sein kann. Letzteres war nicht immer so, lange Zeit übte die Kirche brutalen Zwang aus, man konnte nicht einfach austreten. Das gibt es heute kaum noch. Katholisch zu sein, ist gerade in den westlichen Ländern eine Entscheidung, wennschon keine rebellische, so doch eine robuste und bewusste. In Deutschland wurde bis vor nicht allzu langer Zeit noch gefragt, warum man nicht in der Kirche ist. Heute heißt es: Warum bloß bist du noch drin? 

Es gibt Christen, die auch die Kirche als Lieferdienst interpretieren. „Dafür zahl ich doch keine Kirchensteuer“, sagen sie, wenn der Pfarrer oder eine Kirchenkonferenz politische Positionen vertritt, die den eigenen widersprechen. Ein tiefes Missverständnis: Man zahlt nicht das Abo einer Seelsorge-Agentur, die Trost on demand bietet und Erbauung zum Mitnehmen. Man zahlt freiwillig, weil man glaubt. Und weil man hofft, dass eine Institution den Glauben stärken und organisieren kann. Wenn diese Institution ihren Glauben lebt, entsteht unweigerlich Reibung mit der Politik.

Die Kirche hat eine andere Fallhöhe

Man kann diesen Punkt – freiwillig in einer Institution der Sünde sein – gar nicht hoch genug einschätzen. Zumal in einer Zeit, in der moralischer Purismus, um nicht zu sagen Narzissmus in allen politischen Lagern und kulturellen Kokons auf dem Vormarsch ist. Sich mit einer Kirche zu identifizieren, die immerzu in den Medien ist wegen ihrer Defizite (Missbrauch, Männermachtkartell, Top-down-Struktur, Zölibat sowie das Verbot, Frauen zu Priesterinnen zu weihen), das bedeutet, sich in eine Mitverantwortung zu begeben für Dinge, die man nicht selbst verbrochen hat.

Das heißt: Etwas anderes muss den Ausschlag geben für die eigene Identifikation und Mitgliedschaft. Nicht der Zustand der Kirche oder die innerkirchlichen Zustände werden zum letztlichen Kriterium erhoben, auch nicht die Sünden und Defizite, sondern die Blickrichtung der Kirche – auf Jesus Christus, auf die Liebe, auf Gleichheit, Barmherzigkeit und Respekt, auf die Armen, die Schwachen und die Fremden. Die anderen.

Wer dazu nun sagt, das sei doch bei der Kirche alles nur Heuchelei, der irrt lediglich in einem Wort, nämlich beim: „nur“. Tatsächlich verkörpert, verbaut und vertont diese Kirche das Ringen um Moral und Egoismus, um Anspruch und Wirklichkeit. Priester haben Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht, Bischöfe und Kardinäle haben das systematisch vertuscht und so weitere Taten ermöglicht. Das hat auch deshalb so tief enttäuscht, weil die Kirche Schwächere schützen sollte. Sie ist auf Nächstenliebe gerichtet, hat dann aber oft das Gegenteil verbrochen. Die Kirche hat eine andere Fallhöhe. Wie sehr sie in ihren Skandalen festhängt, zeigt allerdings auch, dass sie ihren christlichen Anspruch nicht einfach drangeben kann, sie muss an ihm festhalten, sie muss sich an ihm messen lassen. 

Mehr lesen
by Author
Die aus der Fernsehserie bekannte US-Schauspielerin Kelley Mack, die mit bürgerlichem Namen Kelley…