Wenn der Moshpit ins Grübeln gerät

„Und wenn euch gar nichts mehr einfällt, um Produzenten von eurem Projekt zu überzeugen“, riet der Regisseur Steven Soderbergh einmal Filmstudierenden, „dann sagt einfach: Das wird ein Film über Hoffnung. Die zieht immer.“ Hoffnung, dieses komische Gefühl, das selbst beinharte Apokalyptiker mit einer Tube Kleber in der Hand auf ein Rollfeld laufen lässt, dieses magische Siegel, mit dem Bundestrainer auf Pressekonferenzen ihre Hoffnungsträger adeln, diese uralte Technik des Wunschdenkens, ist thematisch der heimliche Kontrapunkt der Band Die Nerven. Seit 14 Jahren macht die einst in Stuttgart gegründete Gruppe Musik, die zwar nicht hoffnungslos ist, dafür aber bockig, zynisch, nihilistisch – hoffnungskritisch, könnte man sagen. Oder noch besser: hoffnungsträgerlos. 

heißt das sechste Album der Band, und es klingt eigentlich wie immer. Musikalisch ist nach wie vor beeindruckend, wie Die Nerven allein mit Gitarre, Bass und Schlagzeug einen derartigen Wumms erzeugen. Im Song etwa gibt es ab der Hälfte ein Crescendo mortale, im Hobby-Punker-Slang würde man sagen: einen Abgehpart, der sich gewaschen hat. 120 Sekunden reine Energieverdichtung, die Julian Nagelsmann durchaus mal eine Pausenansprache ersparen könnten, sänge nicht der Nerven-Sänger Max Rieger gleich wieder „Frei sein ist so ungewohnt.“ Das passt ja nun mal gar nicht in eine Kabine voller Erlöserfiguren.

Es ist der alte Nerven-Trick: die Balance zwischen dem Gitarrenpathos ihrer Musik und dem latent altklugen Lamento ihrer Texte. Form und Inhalt brechen sich beständig gegenseitig. Eher zartbesaitete Songtexte bewahren die Musik davor, zu sehr nach Proteinriegel zu klingen, und der kompromisslose Sound holt die Texter Rieger und Julian Knoth aus ihren Moleskine-Heften in den Rockclub. Wenn also Knoth den nicht ganz unprätentiösen Zweizeiler „Auf der Flucht vor der Wirklichkeit/ Ist mir kein Weg zu weit“ singt, dann kümmern sich Rieger an der Gitarre und Schlagzeuger Kevin Kuhn darum, dass sich das garantiert nicht nach Poetry-Slam anhört. Und wenn sich die drei andersherum, etwa im Song , einmal zu einem richtigen Rockhymnenrefrain hinreißen lassen, dann sorgen Knoths Worte dafür, dass der Moshpit ins Grübeln gerät: „Auf den Pfeilern meines Lebens/ Ruhe ich mich aus.“

Natürlich brechen die Erwartungsbrecher Die Nerven aber auch dieses Muster. Prominent in der Mitte des Albums findet sich die Ballade . Ganz unironisch channelt Rieger hier seinen inneren Dirk von Lowtzow und setzt in dick aufgetragenen Metaphern die jetzige Jugend mit der eigenen vergangenen in schmerzvollen Kontrast: „Tausend Nadelstiche/ Treiben sich ins Fleisch/ Ich hör dich sprechen/ Aber weiß nicht, was du meinst.“ Da blickt jemand mit einer Mischung aus Respekt, Unverständnis und Wehmut auf jene Kids, die ganz ohne den Schutzmantel des Zynismus für eine bessere Zukunft kämpfen und sich darüber notwendigerweise aufreiben. Hier gibt die Musik mal kein Contra, sondern macht Platz für ein sehr untypisches Nerven-Instrument: Geigen. So endet diese kleine Zwischenakupunktur der Zynikerseele mit einem der großen Widersprüche des Lebens: „Ein Hoch auf die Jugend/ Zum Glück ist sie vorbei!“

Auf ist der Sound der Nerven gereift. Da ist immer noch die Systemkritik, die bockige Verweigerungshaltung, das „Ich will nicht mehr funktionieren“, eingebettet in die seit jeher farbfeindliche Bildsprache Riegers. Und trotzdem ist sich diese Attitüde inzwischen ihrer selbst deutlich bewusster als früher. Das Prinzip Hoffnungslos hat bei Die Nerven fast schon wieder aktivierendes Potenzial. Nihilisten im besten Fußballeralter würde vielleicht der Bundestrainer sagen, und sich dabei über seine Haartransplantation streichen.

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