Wenn das eine zum Gegenteil des anderen wird

Als Friedrich Merz gestern erklärte, warum Deutschland sich dem Appell von mittlerweile 28 Staaten zum sofortigen Ende des Gaza-Krieges nicht angeschlossen hat, musste der Bundeskanzler sich argumentativ ziemlich verrenken. Die Bundesrepublik habe, so sagte Merz, ja schon eine „praktisch inhaltsgleiche“ Position im Europäischen Rat vertreten. Nach den Regeln der Logik wäre das nun eigentlich gerade ein Grund, jenen aktuellen Appell mitzutragen, den auch eine Reihe von Deutschlands engsten Verbündeten unterstützt, darunter Frankreich, Großbritannien, Polen, Estland, Japan oder die Schweiz.

Doch die Verrenkung von Merz ist nicht nur eine logische, sondern ebenso eine inhaltliche. Denn „praktisch gleich“ ist die Erklärung des Europäischen Rates von Ende Juni, auf die Merz sich bezieht, mit dem aktuellen Appell der 28 Staaten nicht wirklich. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass Letzterer schärfer im Ton ist und die israelische Regierung auch sehr konkret in die Verantwortung nimmt. So verurteilt das Schreiben etwa „die unmenschliche Tötung von Zivilisten, einschließlich Kindern, die versuchen, ihre grundlegendsten Bedürfnisse nach Wasser und Nahrung zu stillen“. 

Der Appell kritisiert ferner den skandalösen Umstand, dass in Gaza bereits 800 Palästinenser bei Essensausgaben getötet wurden, fordert aber auch mit Nachdruck die Freilassung der immer noch von der Hamas in Gefangenschaft gehaltenen Geiseln. Politisch parteiisch oder gar israelfeindlich ist der Appell nach allen Maßstäben, die man gegenüber Staaten im Krieg anlegen kann, nicht. Dass Bundeskanzler Friedrich Merz und Außenminister Johann Wadephul sich ihm dennoch nicht anschließen wollten, obschon die SPD-Fraktion dies mittlerweile fordert, ist entsprechend bemerkenswert. Aber was könnten wirkliche Gründe sein, deren Nennung Merz mit seiner logischen Verrenkung zu vermeiden suchte?

Es wirkt wie eine Relativierung zur Unzeit

Da ist zum einen die deutsche innenpolitische Dimension: Die Position, die ein Politiker oder eine Partei zum Gaza-Krieg einnimmt, wird im aktuellen deutschen Diskurs zunehmend nicht mehr als Einzelstandpunkt oder betrachtet, sondern gilt als weltanschauliche Standortmarkierung darüber hinaus. In der Sache stimmt das oft zwar nicht, weil die Bewertung von Israels Kriegsführung und wie sich wiederum diese Bewertung in Deutschland aufgrund seiner historischen Schuld anders gestalten sollte als in anderen Ländern, auch innerhalb der politischen Lager kontrovers diskutiert wird. Aber innerhalb der öffentlichen Debatte entfaltet diese Polarisierung dennoch ihre Wirkung. Es ist eher links konnotiert, auf das Leid in Gaza hinzuweisen. Und man ist eher konservativ im Sinne des deutschen erinnerungspolitischen Mainstreams, wenn man das Existenzrecht Israels in den Vordergrund stellt.

Aus dieser simplen Zwangslage kann sich ein konservativer deutscher Kanzler nur vorsichtig befreien. Zumal auf der linken Seite statt Erleichterung bisweilen eher „Wir haben es schon früher gesagt“-Reaktionen warten, während man auf der rechten Seite hochsensibel ist, wenn sich einer auch nur dem leisesten Anschein nach mit jenen Kräften im propalästinensischen Spektrum gemein macht, deren Hass auf Israel größer ist als die Empathie mit den Bewohnern von Gaza. Wer aber einen Appell von mehreren Dutzend Staaten unterschreibt, setzt sich dem Risiko aus, dass unter ihren Verantwortungsträgern auch solche sind, die sich in der Vergangenheit zumindest missverständlich in dieser Hinsicht geäußert haben.

Die Konsequenz ist nun allerdings, dass die Nichtunterzeichnung wie eine Relativierung zur Unzeit wirkt. Das Elend in Gaza, das derzeit noch durch die katastrophale Verteilung von Lebensmitteln verstärkt wird, bei der die Bewohner mitunter nachts kilometerweit durch Ruinen wandern müssen, um dennoch mit leeren Händen nach Hause zu gehen, ist ein völkerrechtlicher Skandal. Dessen Verurteilung sollte keine Frage von links oder rechts sein.

Ein zweiter Faktor, der in dieser Entscheidung eine zentrale Rolle gespielt haben dürfte, ist, dass die Bundesrepublik nach wie vor nicht stark genug zwischen der Solidarität mit Israel und der Unterstützung der israelischen Regierung differenziert. Das ist einerseits gewohnt – die deutschen Solidaritätsadressen aufgrund der besonderen historischen Schuld hatten in der Vergangenheit stets konkrete Adressaten, und das waren eben nicht der nur israelische Staat und nicht nur das israelische Volk, es waren immer auch – von Regierungschef zu Regierungschef – die jeweiligen politischen Handelnden. Andererseits ist es aber auch zunehmend falsch: Mittlerweile besteht zwischen der Solidarität mit Israel und der Unterstützung seiner Regierung nämlich nicht nur ein erheblicher Unterschied, sondern zumindest teilweise ist das eine auch das Gegenteil des anderen.

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