Die Vereinigten Staaten von Amerika sind ein seltsames, progressives, reaktionäres und schuldbeladenes Konstrukt. In ihrem Gründungsmythos verbinden sich das Archaische und das Moderne, flackernd zwischen den Polen vom Eiland Manhattan und vom Wilden Westen – dem Ort der Ankunft der Einwanderer und der sogenannten , die, wie es scheint, bis heute nicht aufhört, sich zu bewegen. Ihr Geist wirkt bis in die Gegenwart.
Die Moving Frontier war eine gewaltsame Unterwerfung der Natur, der indigenen Einwohner, der Mexikaner und nicht zuletzt der eigenen unkontrollierten Gier nach Land, Gold und Macht. Das berühmte Bild von John Gast fasst diese Bewegung von Ozean zu Ozean allegorisch zusammen.
So
wie die Freiheitsstatue in New York für Integration und Erlösung steht, so erklärt dieses Bild das
exkludierende Western Movement. Die dort Eingeladenen werden hier zu den
Vertreibern und Mördern und empfinden gerade dies als heilige Sendung.
Ursprünglich hieß das Bild und wurde
bezeichnenderweise unter dem Titel in Tausenden Reproduktionen
und Varianten populär, von der Saloon-Dekoration bis zum Kinderbuch.
Selbstverständlich werden im Bild Indigene und Bisons vertrieben, Columbia trägt unterm Arm ein als solches gekennzeichnetes „School Book“ und ein Seil,
das sich als Telegrafenkabel fortsetzt und damit die Verbindungslinie der
beiden wahren Grenzen des neuen Landes, nämlich der Ozeane, bildet. Der östliche
Ozean steht für die Ankunft der Migranten, die Europa zugewandte Seite des
Subkontinents, der westliche dagegen bleibt rein und offen: die Welt, die dem
neuen Menschen grenzenlos erscheinen muss.
Was wir aber auch sehen: die Bezäunung
der Felder. Das Land, das keine anderen äußeren Grenzen mehr kennt als die
Weiten der Meere, errichtet flugs seine inneren Grenzen. Das Bild von Gast
(1842–1896) verdichtet und illustriert das Manifest Destiny, die
Vorstellung von der gottgewollt-schicksalshaften Sendung zur Besiedlung des
weiten Landes.
Eine
weiß gekleidete Frau, Lady Columbia oder Miss Columbia, die weibliche Verkörperung der United States, schwebt über
den Männern und Siedler-Familien, die mit Pflug, Ochsen, Pferd, Planwagen,
Kutsche und Eisenbahn das Land „erobern“.
Bemerkenswerterweise findet diese mythisch-allegorische Bewegung nicht, wie es
naheliegend wäre, von links nach rechts (in unserer Ikonografie: in die
Zukunft), sondern in umgekehrter Richtung statt. Damit wird diese Bewegung
jenseits ihrer Geografie auch zu einer Bewegung in die Vergangenheit, zurück
zu den Ursprüngen, zum puritanischen Paradies vielleicht.
Das
Licht kommt aus dem Osten und beleuchtet die Bewegung nach Westen, wo es noch
dunkel ist und wild, aber sich erhellt durch die christlich-kapitalistische
Landnahme. Übrigens war John Gast ein New Yorker Maler mit deutschen Wurzeln.
Dies, um daran zu erinnern, dass vieles am Westen eine Erfindung aus dem Osten,
aus post-europäischem Überschwang war.
Die Moving Frontier gen Westen ist das mythische Bild für den großen
amerikanischen Widerspruch: Fundamentale Enge und magische Weite, der Cowboy,
der unterm Big Sky den Stacheldraht des Farmers für seinen Herrn, den Viehbaron,
beseitigen will. Genau dieser Cowboy in seiner absurden Situation, der die
Freiheit seines Herrn mit der Freiheit des Subjekts, die Freiheit des Kapitals
mit der Freiheit des Landes verwechselt, wäre heute ein idealer Trump-Wähler.
Die
mehr oder weniger Vereinigten Staaten von Amerika konnten die Widersprüche, das
verrückte Nebeneinander von liberalem Aufbruch und erzkonservativer Retromanie,
stets nur durch die Phantasie des Fortschritts ertragen. So durften sich selbst
die Verlierer als Teil des großartigen American Way of Life empfinden, auf
den der Rest der Welt nur mit einer Mischung aus Bewunderung und Neid blicken
konnte. Dieses Amerika versteht sich nur durch eine Grenze, die sich
gleichzeitig nach außen bewegt und nach innen schützt. Und gerade, weil eine
solche Grenze widersprüchlich ist, zeigt sich der amerikanische Traum so
besessen von der Idee der Grenze. Der Grenze nach Westen. Der Grenze zum
Weltraum. Der Grenze des Wissens. Der Grenze zwischen Leben und Tod. Und der
Grenze der Freiheit.
Zwischen dem Osten (dem Herkommen) und dem Westen (dem
Hinwollen) gibt es in der Bewegung Kampf, Opfer, Verlust und Triumph. Wie im Oklahoma
Land Rush, wie im Goldrausch, geht es bei dieser kollektiven Bewegung immer
auch um die Konkurrenz. Die Starken, die Schnellen, die „Amerikanischeren“
gewinnen. Und es muss allen jenen verziehen werden, die sich bei der Bewegung
der Grenzen als skrupellos gezeigt haben. Die Pilgrim Fathers, die
Siedler-Patriarchen, die Viehbarone und ihre Söhne, halbverrückt und
größenwahnsinnig. Andrerseits: Wer zu viel Macht und zu viel Reichtum, zu viel
Land oder zu viel Wissen anhäuft, kommt irgendwann zu Fall; das „Volk“ wendet
sich früher oder später gegen ihn. Ein Bannon findet sich gegen einen Musk, der
es trotz allem nicht geschafft haben wird, unsterblich zu werden. Und die
Geschichte der Grenzen beginnt aufs Neue.
Wenn die Bewegung der Grenze die
räumliche Dimension des amerikanischen Traums ist, dann ist die Disruption die
zeitliche. Möglicherweise befinden wir uns in einem techno-politischen Zustand,
in dem beides nicht mehr recht voneinander zu trennen ist. Und der von den
Musk-Oligarchen angekündigte Weg zur neuen Grenze, dem Mars, ist zugleich eine
räumliche wie zeitliche Flucht aus den Widersprüchen.