Was, wenn der Ukraine die Kraft ausgeht?

In Deutschland haben diese Namen keinen Klang. Bahatyr und Wilne Pole. Oleksandropil und Mychajliwka und Malyniwka. Diese Namen wecken keine Emotionen, lösen keine Angst aus, keinen Schrecken. Sie bedrücken hierzulande niemanden, obwohl sie uns doch den Schlaf rauben sollten, ohne Übertreibung: Nacht für Nacht.

Es sind die Namen einiger der ukrainischen Dörfer, die in den vergangenen Tagen von russischen Einheiten erobert wurden. Aus der Ferne wirkt dieser Krieg wie erstarrt, fast nie taucht das Frontgeschehen in den deutschen Nachrichten auf, doch das ist ein Trugbild. Hunderte Soldaten auf beiden Seiten sterben täglich. Nahezu täglich rücken russische Truppen vor, unter großen Verlusten, aber fortwährend. Linie um Linie muss die ukrainische Armee ihre Stellungen zurückverlegen, immer wieder neue Gräben ausheben, immer wieder neue Bunker betonieren, neue Unterstände, Versorgungswege neu aufbauen. Die Ukraine schwindet, Quadratkilometer um Quadratkilometer, jeden Tag ein bisschen mehr.

Welche Konsequenzen hätte es für uns, in Zentraleuropa, wenn die Verteidigung der Ukraine zusammenbrechen würde? Ich habe es in meiner Arbeit als Krisenreporter immer wieder vor Ort erlebt: Kriege, die lange scheinbar unverändert vor sich hin dämmern, vor sich hin eitern, bekommen über Nacht eine neue Dynamik. Fronten, die jahrelang stabil waren, werden binnen Stunden durchbrochen, platzen auf. Die Zerstörung, bis dahin begrenzt auf mehr oder minder fest umrissene Gebiete, ergießt sich ins Hinterland, plötzlich, ohne größere Vorwarnung. Sie rast hinweg über ganze Landschaften, Städte und politische Systeme. Ein militärischer Dammbruch, ein Tsunami des Wahnsinns.

Was wäre, wenn sich die Waffenstillstandsverhandlungen als das entlarven, was sie vermutlich sind, eine Show für Donald Trump, nur ein flirrender Schwerttanz, der dazu dient, um die Gunst des US-Präsidenten zu buhlen? Was wäre, wenn der Ukraine plötzlich nach jahrelangem Zermürbungskrieg die Kraft ausgehen würde? Wenn die Front kollabiert?

Manche Frontbeobachter sagen, die Gefahr eines umfassenderen russischen Frontdurchbruchs sei nicht groß. Andere warnen dagegen eindringlich davor. Das tun auch die meisten Soldaten und Offiziere, mit denen ich in Kontakt bin. Das Szenario würde noch wahrscheinlicher oder fast unabwendbar, wenn Waffenlieferungen ausbleiben oder ausdünnen, was die AfD, die Linke und Wagenknechts BSW fordern. Was also könnten die Folgen sein? Was konkret würde eine Niederlage der Ukraine für Deutschland bedeuten?

Millionen würden fliehen

Die Ukraine würde nicht einfach so untergehen. Das Land könnte in mehrere Teile zerfallen. Die Regierung könnte über die Kapitulationsverhandlungen zerbrechen. Die Armee könnte sich spalten in Gruppen, die weiter gegen Russland kämpfen, Gruppen, die sich ergeben, Soldaten, die ihr Heil in der Kooperation mit den Angreifern suchen und fortan gegen die erstgenannten eingesetzt würden. Das Land würde unregierbar. Aus einer Front würden viele Fronten. Aus einem Krieg zweier Staaten würde ein Bürgerkrieg, die fürchterlichste Art von Krieg.

In jedem Fall würden Millionen von Menschen ihre Heimat verlieren. Sie würden fliehen. 44 Millionen Einwohner hat die Ukraine. Wie viele würden fliehen? Zehn Millionen? Die Hälfte? Sogar mehr? Wer die vergangenen Jahre in der Ukraine gelebt hat, weiß um die Schrecken des russischen Regimes. Wohin fliehen diese Menschen? Nach Polen, Tschechien, vor allem nach Deutschland. Niemand wäre in der Lage, die Verzweifelten an den Grenzen aufzuhalten. Die Flüchtlingstrecks vom Februar 2022, die sich bis zu 100 Kilometer lang erstreckten, wären nur ein Vorgeschmack.

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