Sie
stehen morgens im Stau auf dem Weg zur Arbeit, reichen Anträge beim Amt ein,
holen Kinder von der Kita ab. Aus Flüchtlingen sind in diesen Momenten Auszubildende,
Erzieherinnen, Patienten und Ärzte, Busfahrer und Bäcker, Antragsteller in
Verwaltungen und Steuerzahler geworden. Wie muss man sich diesen Wandel
vorstellen? Wann sind Flüchtlinge keine Flüchtlinge mehr? Es lohnt sich, diese
Fragen genauer in den Blick zu nehmen – der Anteil, den Organisationen hierbei übernehmen, ist immer dann unsichtbar, wenn alles gut läuft.
Eine
moderne Gesellschaft ist kein Kollektiv, dem man beitritt, auch kein Gefäß, das
einen aufnimmt. Vielmehr besteht eine moderne Gesellschaft aus ganz
unterschiedlichen Instanzen mit unterschiedlichen Sachlogiken. Im Rahmen einer
Studie zu „Gesellschaftlichen Andockstellen für Flüchtlinge“ haben wir
diejenigen befragt, die als Lehrer, Arbeitgeber, Ausbilder und Ärzte mit
Flüchtlingen zu tun hatten, und werten nun die Ergebnisse aus. Im Unterschied
zur Idee einer Anerkennungs- und „Willkommenskultur“, die für die erste Phase
der Flüchtlingskrise eine große Rolle gespielt hat, rücken wir die
gesellschaftlichen Institutionen in den Blick, mit denen Menschen unmittelbar
Kontakt haben, die neu in ein Land kommen. Wenn man so beginnt, ändert sich die
Betrachtungsweise auf das Phänomen Migration.
Die
Schule ist eine unter mehreren Andockstellen, die wir untersucht haben. Andere
sind Verwaltungen, Arztpraxen, der Arbeitsplatz oder auch das Theater. All
diese Stellen sind von ganz unterschiedlichen Logiken und Erfolgsbedingungen
geprägt. Gemeinsam ist allen Andockstellen, die wir untersucht haben, ein
zentrales Thema, nämlich sich sprachlich verständlich machen zu können. Es geht darum, dass man sich medizinisch behandeln lassen kann, dass man Geld
verdient, um sich etwas kaufen zu können, dass man auf jemanden trifft, der
einen mit dem Horizont der Bildungsfähigkeit ausstattet, dass man entsprechende
Rechtstitel hat, um überhaupt Verträge unterschreiben zu können, dass man Orte
(Theater, Museen) findet, die man zum Anlass nehmen kann, um sich seine eigene
Biografie vor Augen zu führen.
Selbstverständlich
wird in Schulen und auch an Arbeitsplätzen, in Arztpraxen sowie auf Ämtern
diskriminiert. Wer das in Abrede stellt, würde eine beschönigende Geschichte
erzählen, ebenso übrigens, wenn man behaupten würde, es gebe überhaupt keine
kulturellen Gründe für mangelnde Integration und zu starke Segregation. Aber
man unterschätzt die Instanzen der Gesellschaft, wenn man das für die ganze
Geschichte hielte. Diskriminieren kann man irgendwelche beliebigen Merkmale an
anderen Menschen, schulische Noten dagegen kann man positiv oder negativ
beeinflussen, freilich nur im Rahmen der Plausibilität des Schulischen selbst.
Das muss nicht immer zum Vorteil von potenziell diskriminierbaren Kindern
ausgehen, aber es schränkt zumindest die Möglichkeiten ein und zivilisiert so
den Umgang mit den „Fremden“.
Entscheidend
ist, dass diese Institutionen das Migrantische nicht als Migrantisches
verarbeiten, sondern im Hinblick auf die eigenen Funktionen und Aufgaben.
Schulen sind zunächst Organisationen, die Kinder und Jugendliche pflichtgemäß
mit Abschlüssen versorgen sollen, und alles, was sie tun, ist davon geprägt,
dafür Voraussetzungen zu schaffen. Die Schule, aber auch der Arbeitsplatz konfrontieren
Migranten mit neuen Erwartungshorizonten, von morgens bis nachmittags, Tag für
Tag. Sie erzeugen zeitstabile Formen der Integration. Sie haben wenigstens das Potenzial, das, was ein Mensch in dieser Gesellschaft braucht, durch Wiederholung
und Routine zu ermitteln, auch gegen den Widerstand eigensinniger und
milieuspezifischer Erwartungen. Das bedeutet nicht, dass eine besonders diverse
und heterogene Schulklasse womöglich keine höheren Herausforderungen stellt
oder, abermals, dass Schulen keine Orte sind, an denen auch diskriminiert wird.
Doch eine der wichtigsten Aufgaben der Schule als einer Institution für alle
besteht auch in nicht migrantischen Milieus darin, die Vorerfahrungen wenigstens zu relativieren – das gilt übrigens
nicht nur für ökonomisch und ethnisch prekäre Lebenslagen.
Die
Schule ist ein Ort, an dem eine institutionelle Verbindung von Bildung und
beiläufigem Spracherwerb hergestellt wird. An ihr wird deutlich, dass jenseits
von kulturellen Vorurteilen und sozialer Ungleichheit die Eingebundenheit in
Organisationen Sprachkompetenz erzwingt. Die Sprachkompetenz wiederum ermöglicht
es Andockstellen wie der Schule, Flüchtlinge nach der je eigenen Logik zu adressieren und sie
nicht ausschließlich als Fremde, als Migranten, als Flüchtlinge anzusprechen.
Die Schule macht Flüchtlingskinder zu Schülerinnen und Schülern, der
Arbeitsplatz macht aus Migranten Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, und eine
Arztpraxis sieht am Ende vor allem Patienten.
Das
heißt übrigens auch, dass zunächst mangelnde Sprachkompetenzen durch die
praktischen Erfordernisse der jeweiligen Andockstellen kompensiert werden
können. Beispiele aus unserem Material zeigen: Auszubildende lernen
Getreidesorten wie Vokabeln und finden dann den richtigen Sack Mehl, Busfahrer
profitieren von Navigationssystemen und Fotos unübersichtlicher Kreuzungen.
Nach und nach verstehen Flüchtlinge in solchen Andockstellen dann mehr und profitieren
auch hier von ihren Kollegen. Am Ende des Arbeitstages haben sie Geld, um sich
dafür etwas kaufen zu können. Und der Arbeitgeber hat einen neuen Busfahrer,
für dessen Führerschein er wiederum viel Geld bezahlt hat. Dass er dafür so
viel Geld bezahlt, sollte denjenigen, die die Debatten in fremdenfeindliche
Zuspitzungen führen, zu denken geben. Offensichtlich gibt es eine nicht nur
altruistische Überzeugung, in Migranten zu investieren. Den Arbeitgebern, die sie hegen, hilft es aber
überhaupt nicht, ihre neu gewonnenen Fachkräfte auch noch gegen
die öffentlich geführten Debatten stabilisieren zu müssen.