Die Nachricht kommt am Donnerstagmittag, zwischen 12 und 13 Uhr. Boris Pistorius (64) informiert die SPD-Chefs: Ich stehe nicht als Kanzlerkandidat zur Verfügung. Endlich Klarheit!
Seit Tagen diskutierte die SPD, ob sie den beliebten Verteidigungsminister gegen den unbeliebten Kanzler Olaf Scholz (66) austauschen soll. Jetzt die Vollbremsung.
BILD rekonstruiert, wie der Donnerstag ablief und was in den Tagen vor der Pistorius-Entscheidung passierte.
14.15 Uhr: Scholz eilt ins Willy-Brandt-Haus, die Parteizentrale in Berlin. Pistorius kommt auch. Es ist ihre erste Begegnung, seit die Partei darüber streitet, wer von ihnen Kanzlerkandidat werden soll. Dort wollen sie mit den Parteivorsitzenden Lars Klingbeil (46) und Saskia Esken, Generalsekretär Matthias Miersch (55) und Fraktionschef Rolf Mützenich (65) reden.
Das Treffen hatte die Runde verabredet, als in den Tagen zuvor die Debatte um die Kanzlerkandidatur völlig zu entgleisen drohte. Während der Kanzler für den G20-Gipfel in Rio weilte, meldeten sich fast im Stundentakt Genossen zu Wort, die entweder nach Pistorius riefen oder sich hinter Scholz stellten. Eine Zerreißprobe!
Und so entstand der Geheimplan: Es müssen sich nach Scholz’ Rückkehr aus Brasilien alle Beteiligten in die Augen schauen, die Lage klären.
Eine gute Stunde sitzen die sechs zusammen. Die Frage „Ich oder er“ hatte Pistorius vorab mit seiner Mitteilung geklärt. Nun besprechen sie, wie es weitergeht. Pistorius soll eine Videobotschaft aufnehmen, abends in den großen TV-Nachrichtensendungen Interviews geben.
Der Kanzler verlässt die Parteizentrale, Pistorius bleibt, bereitet seine Videobotschaft vor, nimmt sie gegen halb sechs im Videoraum der Parteizentrale auf.
Spitzentreffen mit den SPD-Ministerpräsidenten
Er nennt es „meine persönliche und ganz eigene Entscheidung“. Und stellt sich hinter Scholz: „Olaf Scholz ist ein starker Kanzler, und er ist der richtige Kanzlerkandidat.“ Es ist sein großer Dienst an der Partei.
19 Uhr: Die SPD-Ministerpräsidenten treffen sich in der Landesvertretung Niedersachsen zur Vorbesprechung des Bundesrats am Freitag (Kaminrunde). Einige wissen, was abends noch kommt, manche ahnen es nur, manche nicht mal das.
19.14 Uhr: Scholz trifft in der Landesvertretung ein.
19.27 Uhr: Die SPD veröffentlicht das Pistorius-Video.
19.45 Uhr: SPD-Präsidium und Fraktionsvorstand schalten sich zusammen. Scholz nimmt aus der Landesvertretung heraus daran teil.
20.30 Uhr: Die Runde wird erweitert, nun nehmen auch Parteivorstand und Fraktion an der Schalte teil. Pistorius erklärt seine Entscheidung, verweist dabei auf seine private Situation: Vor zehn Jahren verlor er seine erste Frau an Krebs, seit einem Jahr ist er wieder glücklich verheiratet. Für ihn gibt es noch anderes im Leben.
Parteichef Klingbeil ruft die Teilnehmer zur Geschlossenheit auf. Und kritisiert die NRW-Abgeordneten Dirk Wiese (Sprecher der eher konservativen Abgeordneten) und Wiebke Esdar (Sprecherin der Parlamentarischen Linken).
Die hatten in einem gemeinsamen Statement Zweifel an Scholz geäußert und Pistorius gelobt. Ein Angriff auf den eigenen Kanzler, als der 10.000 Kilometer entfernt in Rio hockt. Findet Klingbeil mehr als daneben.
Scholz klebte nicht an seinem Stuhl
Die Stimmung in der SPD ist nicht gut. Ausgerechnet am Donnerstag veröffentlichte die ARD eine Umfrage, nach der die SPD auf 14 Prozent (-2) sackte, jetzt gleichauf mit den Grünen ist. Der Kanzler ist weiter sehr unbeliebt, Pistorius trauen die Leute im Land einen Wahlsieg eher zu als Scholz.
Und trotzdem wird der jetzt Kandidat. Warum?
In der SPD-Führung haben sich viele gefragt, wie das gehen soll. Ein amtierender Kanzler, daneben ein anderer Kandidat. Ein Argument, das Pistorius im ZDF seine „staatsbürgerliche Verantwortung“ nennt.
Doch die SPD hat mit sich gerungen. Und auch an Scholz gingen die ganzen Wortmeldungen für Pistorius und gegen sich selbst nicht spurlos vorbei. Nächstes Jahr ist er 50 Jahre in der SPD, sein Parteibuch hat er immer bei sich, es steckt vorn in seiner abgewetzten Ledertasche.
Zwar hält er sich selbst immer noch für den Richtigen, doch musste er sich fragen, ob er auch noch für die Partei der Richtige ist. Nach BILD-Informationen hat er sich da fragend gegenüber den Parteivorsitzenden positioniert. Es war das Signal, sich im Zweifel nicht an den eigenen Stuhl zu ketten.
Auch in Rio hielt er Kontakt zu Klingbeil. Und er änderte während der Reise seine Worte zur Kanzlerkandidatur. Er vermied alles, was irgendwie nach Selbstausrufung klang, sagte stattdessen: „Wir wollen gemeinsam erfolgreich sein. Wir wollen gewinnen. Gemeinsam. Ich und die SPD.“
Es war der ausgestreckte Arm an die Partei, keine Machtansage.
Warum verzichtete Pistorius?
Faktionschef Mützenich stand und steht nach BILD-Informationen an seiner Seite. Auch für SPD-Chef Klingbeil zählen nach wie vor die Pro-Scholz-Argumente Nervenstärke, Erfahrung, bei SPD-Themen wie Rente und Löhnen faktensicher.
Was Pistorius zu seinem Nein zur Kandidatur brachte? Ein SPD-Grande vermutet: „Auch er musste sich in den letzten Tagen noch mal wirklich prüfen. Das eine ist, sich über Zustimmung zu freuen, das andere, alles im Leben einer solchen Kandidatur unterzuordnen.“
Am Montag will Klingbeil dem SPD-Vorstand Scholz als Kanzlerkandidat vorschlagen. Die Zweifel in der Partei sind damit allerdings nicht weg. Jetzt muss der Trotz-Ampelcrash-und-trotz-Umfragetief-Kandidat liefern. Sonst wird die Diskussion, ob Scholz wirklich der richtige ist, härter als zuvor weitergehen.