„Während wir Studien vorlegen, dass das alles Quatsch ist, gibt China Vollgas“

Der scheidende Chef des Flugtaxi-Herstellers Volocopter, Dirk Hoke, warnt vor einer neuen Fehleinschätzung der Europäer und besonders Deutschlands. Einst hätten die deutschen Auto-Hersteller die Bedeutung von E-Autos unterschätzt, während China investierte. Jetzt baue Peking massiv die Elektromobilität in der Luft aus und fördere die „low-altitude economy“, also einen Wirtschaftsmarkt im unteren Luftraum für Fracht-Drohnen, Flugtaxis und andere Dienstleistungen.

„Während wir in Deutschland noch diskutieren und Studien vorlegen, dass das alles Quatsch ist, wird in China Vollgas gegeben“, sagt Hoke WELT. „Wir haben genügend Geld in Deutschland und Europa – was uns fehlt, ist der Mut, auch in neue Technologien zu investieren.“

Hoke geht davon aus, dass binnen weniger Jahre in China Hunderte oder Tausende von Flugtaxi-Landeplätze mit dazugehöriger Infrastruktur wie Hangars entstehen. „Inzwischen gibt es einen Wettlauf der Provinzen und Städte in China, wer als Erstes ein komplettes Ökosystem in Betrieb nehmen kann“, sagt der 55-Jährige. Er ist nach eigenen Angaben erst jüngst von einer China-Reise zurückgekommen.

Hoke geht von einer Konsolidierung bei den chinesischen E-Autoherstellern aus. Dort gebe es Überkapazitäten. Die Regierung habe daher überlegt, wo neue Stellen entstehen können. Daher schaffe China jetzt einen neuen Zukunftsmarkt – in der Luft, so Hokes Analyse. Ähnlich wie in China vor 15 Jahren massiv in den E-Automarkt investiert wurde, sei die E-Luftfahrt „the next big thing“. Auch die USA reagierten und würden über Militärprogramme industriepolitisch in dem Sektor aktiv.

Hoke ist ein Manager mit internationaler Erfahrung. Der deutsche Flugtaxi-Entwickler Volocopter teilte kürzlich mit, dass der Manager freiwillig nach gut zwei Jahren an der Spitze im Februar 2025 ausscheidet. Er wird Chef des großen Heidenheimer Technologiekonzerns Voith Group mit über 22.000 Beschäftigten. Vor Volocopter stand Hoke an der Spitze der Rüstungs- und Raumfahrtsparte von Airbus und arbeitete davor in einer Schlüsselposition bei Siemens.

Offensichtlich reizte ihn der Job beim Lufttaxi-Pionier Volocopter. Allerdings lief nicht alles nach Plan und es gab Projektverzögerungen. Im Frühjahr warnte Hoke offen vor einer Insolvenz. Dann kam aber doch eine zunächst rettende weitere Geldspritze durch die bisherigen Investoren. Die Spitze des Beirates – vergleichbar einem Aufsichtsrat – übernahm jüngst überraschend der 71-jährige Ex-Daimler-Konzernchef Dieter Zetsche. Er war mit einem Mini-Anteil bereits Privatinvestor.

Zudem trat der Chef der Zukunftssparte Geely Technology Group, Zhihao Xu, neu in das Gesellschaftergremium ein. Der chinesische Geely-Konzern gehörte bereits zu den Volocopter-Investoren und ist einer der größeren Daimler-Aktionäre. Branchenkenner werten den Eintritt des Geely-Managers als Signal für das große Interesse der Chinesen an Volocopter.

Volocopter weiter um Unterstützung des Staates bemüht

Bereits im September 2021 hatten Volocopter und Geely ein künftiges Gemeinschaftsunternehmen in China vereinbart. Hoke erklärt offen: „Die China-Achse ist für uns interessant durch die Beschleunigung des Marktes. Er wird aus meiner Sicht alle anderen Märkte überholen, bezüglich Attraktivität und Investmentverhalten.“

Hoke wollte keine Details zur jüngsten Kapitalspritze aus dem Kreis der bisherigen über 50 Gesellschafter nennen, zu denen neben Geely auch ein Fonds aus Saudi-Arabien, Mercedes-Benz oder der Logistiker Schenker gehört. Nach wie vor bemüht sich Volocopter um staatliche deutsche Unterstützung. Hoke erklärt, dass es im Frühjahr die Zusicherung vom Bund über eine Zustimmung gab, weil ein positives Gutachten erstellt wurde. Aber die Bundesländer Baden-Württemberg und Bayern hatten ein Veto eingelegt. Für Hoke ist damit das Thema Staatshilfen keineswegs beendet: „Wir haben weiterhin Gespräche mit Bundesländern, auch mit Bayern. Die Gespräche sind nicht zum Erliegen gekommen.“

Bemerkenswert sind diese Äußerungen Hokes in Bezug auf das zweite deutsche Flugtaxi-Unternehmen Lilium, das sich als Entwickler eines Senkrechtstarter-E-Regionaljets versteht. Auch Lilium ruft dringend nach staatlicher Unterstützung. Nach langem Zögern hat Bayern jüngst seine Unterstützung für Lilium durch eine Haftungsübernahme für ein 50-Millionen-Euro-Darlehen erklärt, sofern der Bund das Risiko für weitere 50 Millionen Euro trage. Bei Lilium fehlt im Unterschied zu Volocopter aber noch die Zustimmung vom Bund.

Trotz mehrerer Verzögerungen ist Hoke optimistisch, dass ein Volocopter-Modell im nächsten Jahr als weltweit erstes westliches E-Flugtaxi eine Zertifizierung der europäischen Aufsichtsbehörde EASA für den kommerziellen Betrieb erhält. „Wir sind allen anderen Firmen auf dieser Welt weit voraus Richtung bei der Zertifizierung“, sagt Hoke. Dies sei der Freibrief für den kommerziellen Einsatz. Hoke sieht sich im Zertifizierungsprozess deutlich vor Lilium und verweist darauf, dass auch die Zertifizierung von Modellen des chinesischen E-Flugtaxiherstellers E-Hang durch die China-Behörde CAAC bei den Einsatzmöglichkeiten nicht vergleichbar sei.

Volocopter lässt zuerst ein Modell für einen Passagier plus Pilot mit 18 Rotoren zertifizieren, intern als B-Modell bezeichnet. Hoke gibt zu, dass sich mit einem Zweisitzer „kein wirtschaftliches Modell aufstellen lässt“. Etwa 2027/28 soll dann das C-Modell für vier Passagiere plus einem Piloten auf den Markt kommen, mit 50 bis 80 Kilometer Reichweite plus Sicherheitsreserve.

Das 2021 angekündigte Projekt eines E-Passagierflugzeugs mit Flügeln (VoloConnect/VoloRegion), von dem im Mai 2022 kurz ein Prototyp abhob, wurde nach Hokes Angaben auf Eis gelegt. „Wir haben es auf hold gesetzt, bis wir einen Sponsor finden.“ Wie Hoke erklärt, will sich Volocopter zunächst auf den Städtemarkt konzentrieren. „Erstens ist der Markt größer und zweitens ist im regionalen Markt auch der Wettbewerb deutlich intensiver.“ Der Großteil aller Flugtaxi-Konzepte weltweit sei für den regionalen Markt. Dort zeichne sich aber ein Wettbewerb durch neue E-Flugzeuge ab, die an vielen Stellen effizienter fliegen können.

Mit der vorrangigen Konzentration auf den Städtemarkt verfolgt Volocopter eine andere Strategie als der Konkurrent Lilium, der sich als ICE der Lüfte über etwas größere Strecken versteht. Hoke bezeichnet das Lilium-Projekt als „tolles Konzept“. Aber es müsse sich erst noch in einem „Realitätscheck“ bewähren.

Gerhard Hegmann schreibt für WELT über Rüstung, Luft- und Raumfahrt und Militär.