Glaubt man den Worten des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj (46), ist die Kursk-Offensive der ukrainischen Armee ein voller Erfolg. Nach knapp vier Wochen beherrschen seine Truppen auf russischem Gebiet 100 Ortschaften und knapp 1300 Quadratkilometer Fläche. Der Feldzug in Kursk sei Teil des „Siegesplans“ seiner Regierung, erklärte Selenskyj in dieser Woche.

Doch die Realität ist etwas komplexer.

Seit dem Beginn der Kursk-Offensive am 6. August rücken russische Truppen im ostukrainischen Donbas immer schneller vor. Allein in der Region Donezk eroberten sie mehr als 230 Quadratkilometer.

Und während die ukrainische Armee mit Sudscha nur eine einzige russische Kleinstadt (6000 Einwohner) unter ihre Kontrolle bringen konnte, eroberte Russlands Invasionsarmee allein im August mit Nowohrodiwka, Krasnohoriwka, Druschba, Piwnitschne und Niu-Jork gleich fünf ukrainische Orte mit ehemals insgesamt mehr als 53 000 Einwohnern.

Seit Donnerstag wird die strategisch wichtige 65 000-Einwohner-Stadt Pokrowsk zudem zwangsevakuiert – denn russische Truppen sind nur noch acht Kilometer entfernt.

„Für die Erfolge bei Kursk zahlt die Ukraine im Donbas einen hohen Preis“, zieht darum auch Militärfachmann Nico Lange (49) eine ernüchternde Zwischenbilanz der riskanten Operation. „Der russische Druck auf Pokrowsk und die dadurch jetzt notwendigen Evakuierungen stellen die Strategie der ukrainischen Führung infrage“, so der Sicherheitsexperte zu BILD.

Lange sieht einen direkten Zusammenhang zwischen den Erfolgen im russischen Kursk und der zunehmen bedrohlichen Lage im ukrainischen Donbas. Denn Kiew dünnte seine besten Einheiten im Osten des eigenen Landes aus, um im Westen Russlands vorstoßen zu können.

„Unterbesetzte Einheiten im Donbas können den Russen dort nicht standhalten, das sorgt intern für Diskussionen und Unruhe“, sagt Lange zu BILD.

Anders sieht es Artis Pabriks (58), Ex-Verteidigungsminister von Lettland. Seiner Meinung nach ist die Kursk-Operation „ein Meisterwerk“, mit der die ukrainische Führung sowohl Russland als auch dem Westen den Spiegel vorhalte.

„Erstens wurde die Operation vor den Alliierten geheim gehalten, um nicht aufzufliegen oder von ihnen aufgehalten zu werden. Zweitens fiel der Zeitpunkt in die westliche Urlaubszeit, in der sich die verantwortlichen Politiker in den Sommerferien entspannen. Drittens überraschte es die traditionelle russische Arroganz der ‚Siegernation‘, die einen solchen Schritt nicht erwartet hatte“, erklärte der jetzige Denkfabrik-Leiter gegenüber BILD.

Alles in allem habe der ukrainische Einmarsch in Russland „den westlichen Skeptikern bewiesen, dass die Angst vor einer Eskalation eine selbst auferlegte Beschränkung ist und die Erlaubnis, westliche Waffen auf russischem Gebiet einzusetzen, eine legitime und pragmatische Forderung darstellt“.

Allerdings: Bislang reagiert der Westen nicht so, wie es sich Kiew vielleicht gewünscht hätte.

Weder wurden der Ukraine neue, weitreichende Waffen zugesagt (Stichwort Taurus und ATACMS mit großer Reichweite) noch haben Berlin, Paris, London und Washington ihre Nutzungsverbote der gelieferten Waffen gegen russische Flugfelder und andere strategische Ziele in Russland überdacht.

▶︎Kritiker sehen dies als Beleg, dass westliche Staats- und Regierungschefs verhindern wollen, dass Wladimir Putin (71) zu sehr in die Enge getrieben wird.

Die Folge: Während die Ukraine mit ihren beschränkten Mitteln in Kursk weiter aushält, eskaliert Russland seinen Angriffskrieg gegen das kleine Nachbarland immer weiter.

236 Geschosse – so viele wie noch nie an einem Tag – flogen am Montag auf ukrainische Städte und Kraftwerke. Millionen haben seitdem keinen Strom mehr. Wie lange die ukrainische Bevölkerung diesem kollektiven Terror Putins noch standhalten kann und ob sie den nächsten Winter überstehen wird, bleibt abzuwarten.