Unter der Haut leuchten die Skelette der Menschen

Die Hydraulik ist schon mal ein Highlight. Bereits zweieinhalb Stunden vor Beginn des ersten Radiohead-Konzerts seit sieben Jahren können zu früh Gekommene den Bühnenaufbau in einer Sporthalle im Zentrum von Madrid bestaunen. Eine zwölfeckige Plattform steht in der Mitte des Innenraums der Movistar Arena, umschlossen von zwölf halbtransparenten, höhenverstellbaren Videoleinwänden. Während der Show werden diese Leinwände, ihrerseits zusammengesetzt aus jeweils 36 kleineren Bildschirmen, auf und ab fahren, sie werden blitzen und blinken und verfremdete Projektionen der Musiker zeigen: Radiohead als Wärmebild, Radiohead im Nachtbildmodus, Radiohead so zerstückelt und neu sortiert, dass man sie zwei Stadtteile weiter im Moderne-Kunst-Flügel des Museums Thyssen-Bornemisza aufhängen könnte.

Später denkt man über diese Bühnenshow, dass man so etwas nun auch noch nie gesehen hat. Man blickt erfreut auf das Gewusel zwischen dem vielen Equipment zurück, darauf, wie eng die Musiker auf der vergleichsweise kleinen Bühne zusammenstehen mussten, wie souverän sie einander die Bälle zugespielt und wie oft sie ihre Positionen getauscht haben, ähnlich einer Fußballmannschaft des einstigen Startrainers Louis van Gaal. Die leisen und getragenen Momente der Songs sind einem zu Herzen gegangen, die lauten und verzerrten durch Mark und Bein, und auch den Bass spürte man manchmal im Körper, als hätte man allzu entschlossen in eine Steckdose gegriffen. Natürlich leuchten in Madrid aber nur scheinbar die Skelette von 17.000 Radiohead-Fans, eigentlich sind es die Lichter an deren Smartphones.

Doch vor alledem sitzt man da und denkt eher: Sieht schon ein bisschen nach Käfig aus, diese Bühne. Als wäre hier gestern Ultimate Fighting gewesen und die Prügelknaben hätten nicht hinter sich aufgeräumt. Oder als hätten Radiohead einen Schutzwall um ihre Rückkehr ins Rampenlicht gebaut. Ganz reibungslos war diese schließlich nicht angelaufen: Zwar hatte es Anfang Oktober nur Minuten gedauert, bis die Band aus Oxford alle Eintrittskarten für die 20 Auftritte ihrer Reuniontour verkauft hatte. Vorausgegangen waren diesem Erfolg jedoch Kritik und Boykottaufrufe. Anders als bei Bruce Springsteen und Oasis, zwei weiteren Großunternehmern des Konzertjahres, hatten diese nichts mit dynamischen oder sonst wie unverschämten Ticketpreisen zu tun.

Präventive Schadensbegrenzung

2017 sind Radiohead in Tel Aviv aufgetreten. Ihr Gitarrist Jonny Greenwood betreibt außerdem ein Nebenprojekt mit dem israelischen Musiker Dudu Tassa – gemeinsam haben die beiden erst im März 2024 in Tel Aviv gespielt. Für britische Bands sind solche Konzerte genauso ungewöhnlich wie die abwägende Weise, auf die sich Radiohead bisher zum Nahostkonflikt geäußert haben. Die Organisation Boycott, Divestment and Sanctions (BDS), die sich für eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Isolation Israels einsetzt (und vom Deutschen Bundestag 2019 als antisemitisch eingestuft wurde), legte der Band diese Zurückhaltung während des jüngsten Kriegs in Gaza genauso wie ihre früheren Auftritte in Israel als Komplizenschaft mit der Regierung des Landes aus.

Der BDS-Forderung, sich zumindest von Greenwood zu distanzieren, ist  Radiohead nicht nachgekommen. Getroffen hat sie der Protest der Organisation und weitere Kritik aus der linken britischen Kulturszene aber offenbar doch. In einem Interview mit der Londoner Zeitung versicherte Radioheads Sänger Thom Yorke Ende Oktober, dass die Band nicht mehr in Israel auftreten werde, solange Benjamin Netanjahu dort Ministerpräsident ist (Greenwood sagte im gleichen Interview, dass er diese Entscheidung für falsch halte). Andere Mitglieder äußerten sich irritiert über die Verachtung, die ihnen plötzlich von Künstlern entgegenschlage, denen sich Radiohead immer verbunden gefühlt hatten.

Man kann dieses Interview als Einblick ins Innenleben einer Band lesen, deren Musiker nach Kompromissen suchen. Man kann es aber auch für präventive Schadensbegrenzung halten. Als bedeutsamste unter den kunstbeflissenen Rockbands der letzten 30 Jahre gilt Radiohead schließlich nicht nur, weil sie Gitarren, analoge Synthesizer und abseitige Elektronik so elegant zusammengebracht hat, dass Menschen noch heute zu ihren Liedern Hochzeit feiern. Mit Songs über Kannibalen, Vampire und modernere Blutsauger, Technologieskepsis und frühe Formen des digitalen Überdrusses gelang es Radiohead, einige inhärente Widersprüche der Popmusik – Konsum gegen Kunst, Massenappeal gegen Eigensinn – erträglich zu machen, vielleicht sogar mit Verheißung zu füllen.

Die Befürchtung, dass dieses Vermächtnis in Madrid auf dem Spiel stehen könnte, zerstreut sich schon auf dem Weg zum Konzert. Keine Demonstranten strömen in Richtung der Movistar Arena, die so klotzig aus dem Stadtteil Goya herauswuchert. Stattdessen sieht man Menschen in alten Radiohead-Shirts zu Fanartikelständen laufen, um neue Radiohead-Shirts zu kaufen. Andere sitzen auf selbstgebastelten Schildern herum, beschriftet mit Songwünschen, die die traditionell kratzbürstige Band später nicht erfüllen wird. Kaum jemand trägt Anglerhut, wenige trinken Alkohol, niemand singt.

Mitklatschen im 5/4-Takt

In der Arena dann kein Wort mehr zu den Vorabkontroversen. Verschanzt hinter ihren Leinwänden beginnen die Mitglieder von Radiohead das Konzert mit dem Song , der zwar schon 28 Jahre alt ist, aber durch seine Popularität auf TikTok kürzlich zum ersten Mal die US-Charts erreicht hat (Platz 91). Das ist doch mal eine schöne Geschichte aus der Gegenwart der Band. Während der erste Song noch etwas wacklig auf den Beinen klingt, kann der zweite vor Kraft kaum laufen. , erschienen im Jahr 2003, gehört zu den Mark-und-Bein-Momenten des Abends, radiert mit drei übersteuernden E-Gitarren jedoch viele der Feinheiten weg, die das Stück eigentlich ausmachen. 

Als sich die Leinwände in Bewegung setzen und erste unverstellte Blicke auf die Musiker ermöglichen, kommt jedoch auch Bewegung in deren Auftritt. Yorke joggt mit wunderbar ineffizientem Laufstil von einem Ende der Bühne zum anderen, tanzt mit einem Minikeyboard watschelig um seine Band herum, traut sich zur verschleppten Klaviermelodie des Songs  so nah an die Kameras heran, dass man auf der Bildschirmprojektion die Falten an seiner Stirn zählen könnte. Der Bassist Colin Greenwood stiftet das Publikum dazu an, einen 5/4-Takt mitzuklatschen, was den Song kurz ins Chaos stürzt. Sein Bruder Jonny Greenwood spielt Gitarre und meistens mindestens ein weiteres Instrument. , den ohnehin schon kompliziertesten unter Radioheads Hits, erweitert er um ein E-Piano-Solo, mit dem der Abend sogar jazzig wird.

Die Eigenheiten und Einlagen der Musiker sind virtuos, bekannt und willkommen – niemand im Publikum macht den Eindruck, gerade zum ersten Mal eine Radiohead-Show zu erleben. Das Vertraute scheint aber auch den Musikern dabei zu helfen, in ihr eigenes Konzert hineinzufinden. Es gibt keine neuen Songs auf der Setlist und auch nur einen von den ganz alten, die unverwüstliche Ballade aus dem Jahr 1995. Radioheads Ursprünge als eher konventionell krachmachende Gitarrenband bleiben außen vor. Wie ihre Zukunft klingen könnte und ob es nach der begonnenen Tour überhaupt eine Zukunft geben wird, bleibt unklar.

Eindringlich, wie kaum eine andere Band, haben Radiohead vor 25 Jahren das Unbehagen besungen, das mit dem neuen Millennium aufschien. Visionäre Leistung natürlich. Eindringlich trifft einen bei ihrer Rückkehr aber auch die Erkenntnis, wie sehr sich selbst diese einst so gegenwärtige Musik nun in ihr Gegenteil verkehren kann. Radiohead sind in Madrid Nostalgie für Millennials, die Sehnsucht nach besseren Tagen, an denen zu ihrer Zeit doch kaum etwas erstrebenswert erschien. Und jetzt der Clou: Weil die Musiker so gekonnt zusammenspielen und ihre Leinwandprojektionen so überwältigend blitzen und blinken, fühlt sich die Verkehrung auch noch wahnsinnig gut an.

Mehr lesen
by Author
Diebe haben acht Kunstwerke von Henri Matisse aus einer Bibliothek in Brasilien…