Kurz nach der Aufhebung der Beschränkungen für weitreichende US-Waffen bei ukrainischen Angriffen auf russisches Gebiet soll die Ukraine erstmals einen Angriff mit diesen Raketen ausgeführt haben. Sechs ATACMS-Raketen hätten ein „Objekt“ in der russischen Grenzregion Brjansk angegriffen, teilte das russische Verteidigungsministerium mit.
Fünf der Raketen seien von der Flugabwehr abgeschossen, eine beschädigt worden sein. Deren Trümmer hätten auf dem Gebiet des „militärischen Objekts“ ein Feuer verursacht, das gelöscht worden sei. Belege für die russischen Angaben gibt es bisher nicht; durch den Angriff soll niemand verletzt worden sein.
Russlands Außenminister Sergej Lawrow bezeichnete den Angriff als Signal dafür, dass der Westen den Konflikt weiter eskalieren wolle. „Diese hochtechnologischen Raketen könnten ohne die Amerikaner nicht eingesetzt werden“, sagte er laut der staatlichen Nachrichtenagentur Tass bei dem G20-Gipfel in Brasilien. Zugleich lobte er Bundeskanzler Olaf Scholz dafür, dass er die Lieferung der deutschen Marschflugkörper Taurus an die Ukraine ablehne. Das sei eine „verantwortungsvolle Haltung“, sagte Lawrow.
Das Portal hatte zuvor unter Verweis auf Sicherheitskreise berichtet, das ukrainische Militär habe die Raketen bei einem Angriff auf ein Munitionslager im Osten der Region eingesetzt. Offizielle Angaben gab es dazu nicht. Allerdings teilte zuvor der Generalstab in Kyjiw mit, ein Munitionslager nahe der Stadt Karatschew im Osten Brjansks sei angegriffen worden. Welche Waffe dabei eingesetzt worden sein soll, teilte das Militär nicht mit.
Zunächst kein unabhängiger Beleg für Angriff auf Lager
Karatschew liegt etwa 130 Kilometer östlich der russisch-ukrainischen Grenze und somit außerhalb der Reichweite von GMLRS-Raketen, deren Einsatz in unmittelbarem Grenzgebiet die USA bereits im Sommer gestattet hatten. ATACMS-Raketen haben je nach Typ eine Reichweite von 165 oder 300 Kilometern.
In sozialen Netzwerken hatten sich in der Nacht Videos von einem
Brand verbreitet, die von dem Gelände des Munitionslagers stammen
sollen. Die satellitenbasierte Feuerkarte der Nasa zeigt allerdings keinen Brand auf dem Gelände des Lagers.
Normalerweise
lösen Angriffe auf Munitionslager heftige Brände aus, da es dabei
häufig zu Folgeexplosionen kommt. Vor mehreren Monaten hatte die Ukraine
mehrere Munitionslager mit Drohnen angegriffen und dabei Zehntausende
Tonnen Munition zerstört.
Dass die Nasa-Karte kein Feuer zeigt,
könnte aber auch an Bewölkung liegen – oder aber ein Hinweis darauf
sein, dass der mutmaßliche Angriff fehlschlug. Dem würden wiederum
Videos widersprechen, die in Karatschew aufgenommen worden sein sollen und auf denen mehrere Explosionen kurz nacheinander zu hören und Feuer zu sehen sind.
USA lehnten Einsatzerlaubnis für ATACMS lange ab
Raketen des Typs ATACMS, zunächst in der Version mit 165 Kilometern Reichweite, haben die USA vor mehr als einem Jahr erstmals an die Ukraine geliefert. Die Version mit 300 Kilometern Reichweite erhielt die Ukraine im April. Dabei wurden sie unter anderem bei Angriffen auf russische Militärflugplätze und geparkte Kampfhubschrauber auf ukrainischem Gebiet eingesetzt sowie bei Attacken auf Flugabwehrsysteme und weitere militärische Ziele auf der Krim.
Trotz wiederholter Anfragen aus Kyjiw lehnten die USA aber ab, den Einsatz der Raketen auf russischem Staatsgebiet zu gestatten. Die Ukraine sowie auch Experten etwa vom Militärthinktank Institute for the Study of War (ISW) verwiesen darauf, dass die Raketen geeignet seien, um russische Militärflugplätze im Grenzgebiet anzugreifen.
So könne die Gefahr durch russische Gleitbomben, die von Kampfjets aus abgefeuert werden und ein großes Problem für die ukrainischen Bodentruppen darstellen, gesenkt werden. Die US-Regierung sagte allerdings immer wieder, nach ihrer Einschätzung würde der Einsatz der Raketen auf russischem Gebiet keinen entscheidenden Einfluss auf den Kriegsverlauf nehmen.
Am Wochenende hoben die USA Berichten zufolge die Beschränkung auf. Die Ukraine kündigte an, erste Angriffe mit ATACMS innerhalb weniger Tage ausführen zu wollen. Anlass für die Entscheidung der USA soll der Einsatz nordkoreanischer Soldaten durch Russland sein. Die Lockerung früherer Auflagen, die etwa Angriffe mit GMLRS-Raketen im Grenzgebiet betrafen, hatten die USA im Frühjahr unter anderem mit der Lieferung von Raketen durch Nordkorea an Russland begründet.
Ukraine hofft auf Unabhängigkeit durch eigene Raketen
Die Ukraine hat von den USA mutmaßlich nur eine niedrig dreistellige Zahl von ATACMS-Raketen verschiedener Versionen erhalten. Um bei Angriffen auf russische Militärziele in der Tiefe künftig unabhängig zu sein – und nicht auf deutlich leistungsärmere Drohnen angewiesen zu sein –, will das Land sein Raketenprogramm voranbringen und künftig eigene Marschflugkörper und Raketen produzieren.
Laut Präsident Wolodymyr Selenskyj soll etwa der ukrainische Marschflugkörper Neptun, der bereits mehrfach eingesetzt wurde, im kommenden Jahr in Serie produziert werden. Der Bau von 3.000 Marschflugkörpern sei geplant, kündigte er in einer Rede vor dem Parlament in Kyjiw an.
Tags zuvor hatte das Verteidigungsministerium mitgeteilt, in diesem Jahr seien 100 Neptun-Flugkörper produziert worden, die Waffe habe Serienreife erreicht. Zudem testet die Ukraine derzeit nach eigene Angaben mehrere Typen ballistischer Raketen aus Eigenproduktion. Wie fortgeschritten die Arbeiten daran sind, ist aber unklar.