Übernimm mich jetzt und hier!

Der Titel eines Koalitionsvertrages ist so etwas wie das Spielzeitmotto im Theater – eine hübsche und gütige verbale Klammer für divergentes Geschehen in der Zukunft. „Verantwortung für Deutschland“ steht über dem Vertrag von CDU/CSU-SPD für die 21. Legislaturperiode. Hübsch ist daran vor allem, dass die Autoren auf ein Verb verzichteten, das die Vokabel „Verantwortung“ womöglich gefährlich präzisiert hätte. Der Bürger darf eigenverantwortlich mutmaßen: Steht die neue Koalition in Verantwortung? Fürchtet sie selbige? Oder wäre es mit Blick auf ausbleibende strukturelle Reformen des Sozialstaats sogar zulässig, den Titel zu erweitern auf „Verantwortung für Deutschland vermeiden“?

In der Politik kommt vom Kanzler bis zur Kreisrätin offenbar kein sprechender Mensch mehr durch die Woche, ohne ungefragt zu erklären, er oder sie übernehme Verantwortung. Die „Verantwortung“ ist damit mindestens rhetorisch überzeichnet, vielleicht fühlt sie sich sogar bedrängt. Friedrich Merz zum Beispiel will nicht nur Verantwortung übernehmen, er sagt, er „bekenne“ sich sogar zu ihr. Ob die Verantwortung sich aber ihrerseits zu Friedrich Merz bekennt, bleibt erst mal offen.

Von der Politik jedenfalls fließt die Verantwortung längst ab in den Sprachgebrauch von Hinz und Kunz und Conrad. Im Sanitärbetrieb Conrad in Wohlsdorf nämlich hat laut schon im September eine neue Generation geschäftsführend Verantwortung übernommen. Trifft die Wendung in Wohlsdorf weniger zu als in Berlin? Und wenn nicht, welchen Wert hat sie dann?

Wer den Keller endlich aufräumt oder im Konzert die Pauke spielt, von dem hört man selten in einer Pressemitteilung. Die Inflation der erklärten Übernahme von Verantwortung weist daher auf etwas anderes hin, auf eine mediale Ära hyperkommunikativer Politik. Während der vormalige Bundespräsident Roman Herzog in einem Text einst noch beklagte, „politische Verantwortung“ bedeute zu oft, dass einer gehen müsse, obwohl er nicht untragbar sei, verhält es sich heute eher umgekehrt. Verbal Verantwortung zu übernehmen, muss praktisch gar nichts bedeuten, weder im persönlich Schlechten (Rücktritt) noch im allgemein Wünschenswerten.

Das macht all jene, die derzeit politisch Verantwortung suchen, nicht zu schlechteren Politikern. Nur zu welchen, die mehr reden. Ein Mensch, ein Wort – das war einmal. Ein Mensch, eine Verantwortung – das ist der neue Standard. Gültig bleibt dessen ungeachtet, was der Vater von Peter Struck seinem Sohn einst riet: „Egal, was du machst, und wenn du nur den Hof fegst – mach es ordentlich.“

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