DIE ZEIT: Sir Simon, warum steht klassische Musik unter so hohem Rechtfertigungsdruck?
Simon Rattle: Fragen Sie mich etwas Leichteres.
ZEIT: Vor 20 Jahren kam der Dokumentarfilm ins Kino, er begleitete ein von Ihnen initiiertes Projekt der Berliner Philharmoniker, deren Chefdirigent Sie damals waren. 250 Schüler, größtenteils an Berliner Problemschulen, studierten Igor Strawinskys Ballett ein. Man kann den Schülern dabei zusehen, wie sie wachsen und Selbstbewusstsein entwickeln. Wollten Sie damit beweisen: Klassik ist nicht nur schön, sondern auch nützlich?
Rattle: Wir hatten gar nicht vor, den Film zu machen, anfangs war nur das Ballettprojekt selbst geplant. Mir war wichtig, Musik auch für andere Menschen zugänglich zu machen als die, die wir ohnehin erreichen. Um das nötige Geld aufzutreiben, hatte ich ein denkwürdiges Treffen mit einem Manager einer großen Bank. Ich erzählte ihm von der Idee, er fragte nur: Wie viel brauchen Sie? Ich nannte eine Summe, er sagte: Gut, wir probieren das. Solche Termine hat man nicht sehr oft im Leben
ZEIT: Ist das der Grund, weshalb es den Film dann doch gab?
Rattle: Nein, wir haben anfangs einfach mitgefilmt, für unsere eigene Arbeit. Eines Tages kamen die beiden Kameraleute zu mir und sagten: „Simon, hier geschieht etwas Außergewöhnliches, sollten wir nicht dranbleiben?“
ZEIT: Was ist Ihnen damals gelungen?
Rattle: Wir haben Menschen zusammengebracht, die sich normalerweise nie treffen würden – einige waren vorher sogar verfeindet. Man kann dabei zusehen, wie Freundschaften entstehen. Und man sieht, wie sich das Leben der Menschen verändert und ihre Denkweise. Das ist ja das Schöne: Es geht bei Musik nie nur um die Musik selbst. Sie kann Emotionen beschreiben, wie es nur sehr wenige Kunstformen können. Und sie tut den Menschen gut,
ZEIT: Dem würde wohl niemand widersprechen. Trotzdem wurde in den Folgejahren der Musikunterricht in den Schulen empfindlich zusammengestrichen, und auch sonst wird, wenn es um klassische Musik geht, in Deutschland eher gekürzt als investiert, nicht zuletzt an Ihrer neuen Wirkungsstätte, dem Bayerischen Rundfunk. Bringt Sie das manchmal zur Verzweiflung?
Rattle: Ich bin ein optimistischer Mensch. In meinen allerersten Jahren als Dirigent habe ich ja noch Margaret Thatcher erlebt – mit ihrer fatalen Idee, dass in der Bildung alles quantifiziert werden musste. Was keinen beweisbaren Nutzen hatte, wurde gestrichen. Einer von Mrs. Thatchers engsten Beratern, Sir Keith Joseph, wollte von mir wissen, was nötig sei, um herausragende Musiker auszubilden. Ich sagte: Man muss in den Grundschulen damit anfangen, in der Breite, und dann dranbleiben – aber ich merkte schon am Anfang des Satzes, dass dies für ihn die falsche Antwort war. Er wollte hören: Man muss ein paar Naturtalente finden und ihnen viel Geld geben, dann klappt es sicher. Nur leider ist das eben nicht wahr. Es ist wie in der Landwirtschaft: Der Boden muss gleichmäßig gedüngt sein, und dann kann man nur aussäen, abwarten und hoffen. Und wenn die Musik aus den Schulen verschwindet, müssen eben wir einspringen und dafür sorgen, dass sie nicht aus dem Blick gerät.
ZEIT: Oder könnte es sein, dass – ketzerisch gefragt –die Musik doch nicht so wichtig ist, wie Menschen aus der Musikwelt gerne glauben?
Rattle: Egal, mit wem ich aus der Wissenschaft oder der Wirtschaft spreche, ich höre immer wieder: Wir brauchen in Zukunft keine Arbeitsbienen, sondern kreative Menschen, die über den Tellerrand hinausschauen und verschiedene Ideen zusammenbringen, um damit komplexe Probleme zu lösen. Das ist die Standardantwort. Genau das lernt man in der Musik und in der Kunst, und noch dazu Kommunikation und Zusammenarbeit im Team. Klar, Naturwissenschaften sind unglaublich wichtig, aber sie sind nicht der einzige Weg, um Menschen zu bilden.