„Tragischer Vorfall“ – Diesmal kann Moskau das Öffnen der Black Boxes nicht verhindern

Welche Technik versagte, als wahrscheinlich Granatsplitter das Flugzeug trafen und worüber redeten die Piloten? Diese Geheimnisse können der Flugdatenschreiber und Stimmenrekorder des am 25. Dezember in Kasachstan verunglückten Flugzeugs von Azerbaijan Airlines offenbaren. Sie wurden geborgen und werden jetzt ausgewertet.

Kremlchef Wladimir Putin hat sich zwar inzwischen beim aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Aliyew für den „tragischen Vorfall im russischen Luftraum“ entschuldigt. Er wollte aber nicht offen von einem versuchten Abschuss reden – nur von Aktivitäten der russischen Luftverteidigung zur Abwehr ukrainischer Kampfdrohnen. Experten im Kreml ist wohl bewusst, dass es schwierig wird, Details rund um das Unglück zu verschleiern, bei dem 38 der 67 Menschen an Bord starben, darunter die beiden Piloten.

Eine Schlüsselrolle bei der Aufklärung spielen die Black Boxes, die in dem Flugzeug vom Typ ERJ-190AR des brasilianischen Herstellers Embraer eingebaut waren.

Als im August 2023 ein Geschäftsreiseflugzeug vom Typ Embraer Legacy 600 mit dem Kopf der Söldnergruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, aus großer Höhe abstürzte, kam es nie zu einer transparenten Aufklärung. Daran wäre Embraer interessiert gewesen. Schließlich war es der erste Absturz dieses Modells. Doch der Kreml hatte daran kein Interesse. Weil es ein innerrussischer Flug war, konnte das sonst übliche internationale Prozedere verhindert werden. Putin sprach von einer Handgranate an Bord.

Brasilianische Experten an der Absturzstelle

Bei der versuchten Notlandung samt Absturz des Flugzeugs von Azerbaijan Airlines ist es jetzt nicht möglich, eine internationale Aufklärung zu blockieren. Die Daten der Black Boxes sollen von der brasilianischen Flugsicherheitsbehörde Cenipa ausgelesen und entschlüsselt werden, schreibt der Branchendienst avherald.com. International ist es üblich, das Land des Flugzeugherstellers in die Untersuchungen einzubinden. Brasilianische Experten von Cenipa und Embraer trafen soeben vor Ort ein. Der Präsident von Kasachstan kündigte zudem eine objektive Untersuchung an.

Neben der Frage, von welchem Waffensystem das Flugzeug offensichtlich beschossen wurde, spielt auch die ungewöhnliche Flugroute eine Rolle. Zunächst hob die Maschine von der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku in Richtung Grosny in der russischen Teilrepublik Tschetschenien ab, wurde dann aber wegen angeblichem Nebel nach Machatschkala in Russland umgeleitet und tauchte schließlich über dem Kaspischen Meer auf.

Die Piloten versuchten eine Notlandung auf dem kasachischen Flughafen Aktau. Unklar ist, warum der Maschine die Notlandung in Russland verweigert wurde und sie über das Kaspische Meer ausweichen musste. Die Fluggesellschaft teilte mit, dass nach ersten Ermittlungen der Absturz „durch physische und technische Einwirkungen von außen“ verursacht wurde.

Militärexperten halten es für plausibel, dass die Maschine irrtümlich von russischen Flugabwehrgeschossen getroffen wurde. Um ukrainische Drohnenangriffe abzuwehren, seien Funk- und Navigationssysteme in der Region gestört worden. Dies habe die Identifikation des Flugzeugs erschwert.

Details aus dem Absturz der Maschine von Azerbaijan Airlines erinnern an den Absturz des Malaysia-Airlines Flug MH17 im Juli 2014. Dabei starben 298 Menschen. Auch damals gab es Bilder mit Löchern in der Außenhaut des Flugzeugs. Die Ermittlungen kamen zum Ergebnis, dass das Boeing 777-Modell von einer Rakete des russischen Flugabwehrsystems Buk M1 getroffen wurde. Sie wurde aus einem von prorussischen Separatisten kontrollierten Gebiet abgefeuert. Mehrere Staaten machen Russland offiziell für den Abschuss verantwortlich, während Moskau jegliche Beteiligung leugnet. Die Black Boxes vom Flug MH17 wurden in Großbritannien ausgewertet.

Sollten sich die Indizien über einen Beschuss des Fluges von Azerbaijan Airlines bestätigen, wäre es der mindestens dritte Vorfall, in dem ein Passagierflugzeug unter Mitwirkung Russlands verunglückt. Zur Liste gehört neben MH17 auch ein Vorfall aus dem Jahr 1983. Damals durchquerte nach einem Navigationsfehler ein Boeing Jumbo-Jet der Korean Air Lines den sowjetischen Luftraum. Das Flugzeug wurde als militärisches Ziel eingestuft und von sowjetischen Jagdflugzeugen in internationalem Luftraum abgeschossen. Alle 269 Menschen an Bord starben.

Gerhard Hegmann schreibt für WELT über Rüstung, Luft- und Raumfahrt und Militär.