Täter, Krieger, Opfer und über allem das Moos

Mittlerweile
liegen sie im Gestrüpp, unter Schlingpflanzen und Schösslingen: General
Christian Wilberg. Oberstleutnant Constantin von Sommerfeld. Unteroffizier
Gephard Willmer. Sie alle sind schon lange tot, gestorben im Zweiten Weltkrieg,
der vor 80 Jahren am 8. Mai zu Ende ging. Der eine stürzte ab. Der nächste
starb im Endkampf um Berlin. Der Dritte fiel 1941 in Nordafrika vor
Tobruk.

Ihre
Gräber auf dem Parkfriedhof Lichterfelde im Südwesten Berlins werden nicht mehr
gepflegt, weil auch die längst tot sein müssen, die sich an die Toten noch erinnern
konnten. Familien erloschen, Vorfahren wurden vergessen. Auf dem Parkfriedhof
liegen die Ur- und Ururgroßväter der heutigen Gesellschaft. Sie
töteten und wurden getötet, als Deutschland zum bisher letzten Mal bewies, wie
kriegstüchtig“ es sein kann. Insofern ist der Parkfriedhof ein guter Ort, um
sich zu erinnern und sich zu fragen, wo die deutsche
Gesellschaft heute steht – und was auf sie und die Bundeswehr in den Konflikten
der Zukunft zukommen könnte. 

Die Pfade,
die in einen Abschnitt führen, der „im Walde“ heißt, sind von bis zu zwei
Stockwerken hohen Büschen gesäumt. Meist sind es Rhododendren, die vor 70, 80,
100 Jahre gepflanzt worden sein müssen, Koniferen, so ausladend, dass die
Zweige erst fünf oder sechs Meter vom Stamm entfernt den Boden berühren, nur
die Spitzen mit Nadeln bestückt. Das Dach des Waldes bilden die für Berlin und
Brandenburg typischen Kiefern. Es ist ein Wald, dem man das Künstliche noch
ansieht, in dem das Freie, Wilde, Ungepflegte aber längst die Oberhand gewonnen
hat.   

Links und
rechts der Pfade reihen sich verwilderte und in Teilen überwucherte
Familiengräber aneinander. Nicht selten ließen die Angehörigen monumentale
Felsen heranschaffen und meißelten ihren Familiennamen hinein. Andere
errichteten Denkmäler, mehrere Meter breit und übermannshoch, und versahen sie
mit antikisierenden Ornamenten. In dem einen oder anderen Stein sind noch
Löcher zu erkennen, die zu einem Hakenkreuz gehören könnten, das dort einmal
befestigt war. Andere Grabsteine bilden aus Granit ein Eisernes Kreuz oder
Ritterkreuz nach, gelegentlich sogar mit Schwertern. Es sind Auszeichnungen,
auf die das Leben eines preußischen Offiziers zulief und zulaufen sollte. Aber
viele waren eben nicht nur gute Soldaten, sondern begingen im Zweiten Weltkrieg
auch Verbrechen oder verhinderten sie nicht, standen dem NS-Staat nahe oder
stützten ihn. Insofern verkörperte die Generation, die hier liegt, den
Höhepunkt preußischer Kultur und Schlagkraft – und zugleich deren
Endpunkt.  

Stadtteil der Eliten in Uniform

Das
Gelände wurde im Kaiserreich angelegt. Damals wuchs Berlin zur Millionenstadt
heran und ein Stadtviertel nach dem anderen entstand neu. Aus
dem Dorf Lichterfelde wurde damals ein Villenviertel, geplant und finanziert
von einem Unternehmer namens Johann Carstenn, heute würde man ihn einen Stadt-
und Projektentwickler nennen. Carstenn ließ in Lichterfelde die erste
elektrische Straßenbahn der Welt bauen und überzeugte die preußische Armee
davon, ihre Hauptkadettenanstalt genau dort zu errichten, wo heute das
Bundesarchiv untergebracht ist, das Gedächtnis der deutschen Demokratie.

Die
Absolventen der Kadettenanstalt genossen Ende des 19. Jahrhunderts einen Ruf,
der sich nur mit dem der US-amerikanischen Militärakademie Westpoint
vergleichen lässt. Ein „Lichterfelder“ war nicht irgendein Soldat, er war die
Elite, und seine Ausbilder wohnten nahebei, weshalb die Straßen in Lichterfelde noch heute
Kadettenweg und Kommandantenstraße heißen. Auch so erklären sich die vielen
Offiziersgräber auf dem Parkfriedhof.

Neben
einigen Gräbern steckt ein kleines Schild der Friedhofsverwaltung: „Bitte
melden.“ Denn ihre Zeit ist abgelaufen und die Friedhofsgebühren müssten eigentlich für die
nächsten 20 Jahre entrichtet werden. Sonst verschwinden die Namen, und die
Grabstätten werden irgendwann neu vergeben. Insofern sieht man auf dem Parkfriedhof Lichterfelde sehr gut, wie
lange der Krieg bereits zurückliegt und wie blass die Erinnerung an ihn geworden
ist.

Doch es wäre nun Zeit, das Moos von den Kriegsgräbern zu kratzen, denn die
Lage hat sich verändert, und zwar dramatisch. Seit dem russischen Überfall auf
die Ukraine ist ein großer europäischer Krieg von einer theoretischen
Möglichkeit zur realen Gefahr geworden. Die Fähigkeit zur Landesverteidigung rückt
seit der Ausrufung der „Zeitenwende“ durch Bundeskanzler Olaf Scholz wieder ins
Zentrum der sicherheitspolitischen Debatte, und im selben Moment wurde offenbar: Eine Kernaufgabe des Staates ist über Jahrzehnte vernachlässigt worden. Die
Landesverteidigung. Doch was heißt Landesverteidigung in einem Land, das zwei Weltkriege zuerst
verursacht und dann verloren hat? Was braucht die Bundeswehr heute? Nur ausreichend
Marschflugkörper und Kampfdrohnen – oder doch noch etwas anderes?

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