Tage wie halb geschmolzenes Kerzenwachs

Wenn man sich sinnlich vorstellt, dann riecht
der Roman nach frisch gemähtem Heu und Sonnencreme und schmeckt nach Wodka, den
eine Mädchengruppe vor einer Party herumreicht, während sie sich die erste
Zigarette teilt. Es sind die Neunzigerjahre, Crossmore ist ein kleines Dorf
mitten in Irland. Hier begleitet Chloe Michelle Howarths Debütroman die 15-jährige
Lucy beim Aufwachsen. Der Vater steht frühmorgens auf, um die Kühle zu melken;
die Mutter achtet darauf, dass die Kinder sonntags in die katholische Messe
gehen. Crossmore ist kein Ort, an dem Platz wäre für „wilde Gedanken oder
Ambitionen“, fasst Lucy zusammen. Sondern ein Ort, der überall Augen
und Ohren hat. Gerüchte verbreiten sich schnell, jedes Geheimnis tritt früher
oder später zutage.

Lucy hat ein solches Geheimnis. Es heißt Susannah O’Shea und
trägt Metallic-Lipgloss. Susannah stammt aus einer unkonventionellen Familie,
lebt mit ihrer Mutter in einem großen Haus „ohne offensichtliches Einkommen und
ohne Ehemann“ und darf, im Gegensatz zu Lucy, tun und lassen, was sie will. Es
folgt ein langer Sommer voll heimlich zugesteckter Briefe, Nachmittage in
Susannahs Garten und gemeinsam gerauchter Joints. Und spätestens, als Lucy
Susannahs Sonnenbrand mit Eiswürfeln kühlt, zerfließen die Grenzen zwischen
Freundschaft und Begehren.

„Ich dachte immer, ein Ort wie Crossmore würde einen
Menschen wie mich umbringen“, denkt Lucy, als Susannah und sie sich näherkommen.
„Aber jetzt wird mir klar, dass Orte wie Crossmore für Menschen wie mich
gemacht sind. Hier gibt es Platz für mich, für uns, draußen an den Rändern,
zwischen den Ruinen und den Hecken und den Steinmauern.“ Doch dieses Gefühl der
Geborgenheit hält nicht lange an. Lucy ahnt, dass ihre Mutter sie verstoßen
würde, wenn sie von ihrem Begehren wüsste – und auch ihre Mädchengruppe, die sie
über alles liebt.

Lucy schneidet ihre langen Haare doch lieber nicht ab
und denkt sich, wenn die anderen Mädchen über Jungs sprechen, Dinge aus, die
sie an Derek oder Ryan begehrenswert finden könnte. Sie ist hin- und
hergerissen zwischen Susannah und einer möglichen Zukunft mit
ihrem Kindheitsfreund Martin, mit der sie den Erwartungen ihres konservativen
katholischen Umfelds entsprechen würde. Vorbilder, denen sie folgen könnte,
gibt es in Crossmore keine. Über queere Menschen wird im Dorf gelästert,
„Lesbe“ und „Dyke“ sind Schimpfwörter. erzählt die schon oft
variierte Geschichte von queerer Einsamkeit, dem Wunsch nach Zugehörigkeit und
der Angst vor sozialem Ausschluss – Motive, die zuletzt etwa Édouard
Louis
oder Didier Eribon in ihren autofiktionalen Texten verhandelten.

In sozialen Medien wird mit Sally Rooneys
Bestsellerroman
verglichen. Zugegeben, es gibt
Ähnlichkeiten: Auch spielt in Irland und dreht sich um die komplizierte
Liebesbeziehung zweier Menschen, die diese (aus unterschiedlichen Gründen)
geheim halten, wobei Klassenunterschiede eine Rolle spielen. Wahrscheinlich
muss sich derzeit jede junge irische Autorin einen Vergleich mit Rooney gefallen
lassen, wie zuletzt die 33-jährige Naoise Dolan. Der Unterschied zwischen
Rooney und Howarth besteht darin, dass Howarths queere Charaktere auch tatsächlich
queeren Sex haben – anders als in Rooneys Romanen, in denen die Figuren mit
ihrer queeren Identität vorrangig kokettieren
.

Für Lucy ist ihr Begehren keine Koketterie, sondern birgt Leidensdruck.
Immer wieder überlegt sie, ob sie nicht doch den Weg, der für sie vorgesehen
ist, einschlagen könnte. Es hat Anklänge vom Fatalismus einer Esther Greenwood
aus Sylvia Plaths Klassiker wenn Lucy denkt: „Vielleicht
heirate ich einen Bauernsohn, der mir ein paar Kinder schenkt und ein Haus, um
das ich mich kümmern kann. Vielleicht gefällt mir das ja. Vielleicht ertränke
ich mich in der Badewanne. Wer weiß das schon?“ Letztlich folgt Lucy nicht
diesen fatalistischen Gedanken und entkommt der Enge Crossmores. Die Handlung
begleitet sie über fünf Jahre hinweg, in denen sich ihre Welt immer weiter
ausdehnt.

ist ein in großen Teilen bildgewaltiger
Roman. Die Tage in Crossmore „kleckern so zäh vorbei wie halb geschmolzenes
Kerzenwachs“. Doch stellenweise kippt das Bildliche ins Kitschige: „Wir
sind wie Honigwaben, so süß und so genau aufeinanderpassend“, denkt Lucy etwa,
und auch ihre häufigen Vergleiche Susannahs mit der Sonne und mit Engeln werden irgendwann
schrecklich repetitiv – so sehr, dass es selbst Lucy zwischendurch zu viel wird
und sie einen Brief an ihre Angebetete abbricht. Überzeugend ist jedoch der
teenagerhafte, sprunghafte Tonfall Lucys. „Ich werde bald jemanden mögen, wenn
ich der richtigen Person begegne“, sinniert sie. „Einen sensiblen Jungen, mit
langen Haaren, schönen Gesichtszügen und einer sanften Stimme, da bin ich mir
sicher.“ Als Leserin ist man sich da nicht so sicher – und begleitet Lucy gern
durch ihr langes Coming-out.

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