Spötter, Gründer und Gelehrter

„Wenn niemand hinschaut, nennt man das Kulturprogramm.“ Ein paar der bissigsten Bemerkungen über das Fernsehen stammen von einem Menschen, der alles daran setzte, es neu zu erfinden: Helmut Thoma. In den Gründerjahren des deutschen Privatfernsehens
war Thoma allgegenwärtig, saß auf allen Bühnen, warb im Bundeskanzleramt und in
Staatskanzleien für seinen Sender RTL, trieb sich auf Empfängen und in
Hinterzimmern herum. Ihm war nichts fremd und fies, was Quote brachte, und im
selben Moment hat er Menschen eine Repräsentation im Fernsehen verschafft, die
sie vorher nicht hatten. Der Mann aus Wien war ein Freigeist, ein Unternehmer,
ein Entertainer – und prägt das deutsche Fernsehen bis heute.

Für alle, die nach 1990 geboren sind, sei es noch einmal kurz erklärt: Bis Anfang der Achtzigerjahre gab es nur ARD, ZDF und die Dritten Programme. An Werktagen herrschte tagsüber Sendepause. Fernsehen begann erst am frühen Abend, eine Ausnahme bildeten die langen Schulferien, in denen sommerferienfaule Jugendliche ab mittags unterhalten wurden.

Anfang der Achtzigerjahre bereitete dann der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl gemeinsam mit den Ministerpräsidenten eine Revolution vor. Es sollten sich auch private Unternehmen um eine Lizenz bewerben und Fernsehsender betreiben können. Vorbild waren natürlich die USA. Schon bevor die deutsche Rechtslage es ihm erlaubte, bereitete Thoma den TV-Sender RTL in Luxemburg vor und speiste ihn sobald er durfte, am 2. Januar 1984, ins deutsche TV-Kabelnetz ein. Die erste Szene: „Chefarzt“ Rainer Holbe, ein früherer Showmaster von ARD und ZDF, entband einen Fernseher, auf dem das RTL+-Logo prangte. Danach folgte eine Nachrichtensendung mit Hans Meiser.

RTL und PKS (heute Sat.1) waren 1984 die ersten privatwirtschaftlich organisierten und finanzierten Sender, und vor allem RTL wurde für grottenschlechtes Amateurfernsehen bekannt. Es war nach damaligen – und nach heutigen – handwerklichen Gesichtspunkten unfertig, grob, grell, und bald auch halbnackt. Aber dieses Fernsehen war auch neu, ungesehen, es hatte die Frische einer aus dem Ruder laufenden Party, die bis zum Morgengrauen dauert und über die alle rückblickend sagen, es habe sich gelohnt, es sei unvergesslich gewesen, wenn nicht sogar episch. Vor allem die peinlichen Ausschweifungen haben sich ins Gedächtnis eingebrannt – wie bei jeder guten Party. So war das bei RTL mit der nippelzeigenden Quizshow und mit Reality-Talkshows, für die Gäste gesucht wurden, die laut und dramatisch über ihr Leben, ihre Krankheiten und den Ex reden wollten. Es erhielten Menschen und Moderatoren eine Bühne, die nie einen Platz im öffentlich-rechtlichen Fernsehen bekommen hätten.

RTL trug dazu bei, ein umfassenderes Bild der deutschen Gesellschaft ins Fernsehen zu bringen. Das war vor allem das Werk von Helmut Thoma. Er machte Moderatoren wie Hella von Sinnen und Harry Wijnvoord groß, Hugo Egon Balder und Ulli Potofski, er gab ihnen die Chance, ihre neue Vorstellung von Entertainment zu verwirklichen und damit über die Jahre die gesamte Fernsehlandschaft zu bereichern. Denn von nun an gab es so etwas wie echten Wettbewerb im Fernsehen: um Talente, um neue Show-Formate, um filmische Erzählweisen. Je teurer das Experiment war und je komplexer die Innovation, desto später in der Entwicklung des Privatfernsehens ist sie zu verorten. 

Mehr Breite bedeutete nicht zwingend mehr Tiefe. Privatfernsehen musste anfangs vor allem erfolgreich und billig sein. Erst so entstand die Grundlage für all die Grimme- und Deutschen Fernsehpreise, die RTL mit seinem Programm in den späteren Jahren und Jahrzehnten gewonnen hat. Zugleich leitete sich aus den Anfangsjahren von RTL und Sat.1 die These ab, dass im Massenmedium Fernsehen der Wettbewerb stets zu einer Verschlimmerung der Sitten, einer Verschlechterung der Qualität führe und überhaupt ein Symptom und ein Beschleuniger für den gesellschaftliche Niedergang sei.

Der Österreicher Helmut Thoma konnte sich herrlich darüber amüsieren, wenn das Bildungsbürgertum und sein zugehöriges Feuilleton, auch das Feuilleton der ZEIT, wieder einmal eine Sendung von RTL verriss oder ihn selbst als König des Trash bezeichnete. Thoma, der promovierte Jurist, glaubte von Anfang an – und wusste sehr bald anhand der Zahlen und Quoten: Fernsehen ist größer als der Arthouse-Film, als die Konzertübertragung und als das Kleine Fernsehspiel. Das Schreckliche, Hässliche und manchmal auch Eklige im privaten Fernsehen waren für ihn ein Teil des Lebens und der Evolution – und er machte sich eine Freude daraus, es mit Verve und ohne jedes Wimpernzucken zu verteidigen. Er sagte dann zum Beispiel: „Fernsehen ist immer auch Voyeurismus. Man kann zynisch sagen, Reality-TV ist das unsägliche Glück, bei einem Unglück dabeizusein.“

Für Journalisten war Thoma ein dankbarer Gesprächspartner, der seine eigene Branche und sich selbst gern spöttisch betrachtete. Auf die Frage, wann ihn das Fernsehen zuletzt elektrisiert habe, sagte er der () einmal: „Bei der Übertragung der Mondlandung.“

Aber das war nur die halbe Wahrheit, Thoma liebte seine Arbeit bei RTL. Für die Chance, einen Fernsehsender neuer Art aufzubauen, hatte er seinen sicheren Job als Justiziar im österreichischen Rundfunk, dem ORF, aufgegeben. „Das Schönste“ sei für ihn damals die Möglichkeit gewesen, „aus nichts etwas zu machen – und ich hatte nichts und bin mit 25 Mann und 25 Millionen D-Mark angetreten“, sagte er im Fachmagazin   Fernsehen sei „das einfachste Medium“, es sei eben „primär ein Unterhaltungsmedium“. Sein Vorteil sei gewesen, dass ARD und ZDF das lange nicht beherzigt hätten. Ob er im Rückblick irgendetwas anders hätte machen wollen? Seine Antwort, wieder in der : „Eigentlich nicht.“

Bis heute prägen Sendungen, die zu seiner Zeit entstanden sind, das Programm von RTL: Da ist die ewige Vorabendserie besser bekannt als , mit inzwischen mehr als 8.000 Folgen. Dasselbe gilt für die Boulevard- und Verbraucherformate (seit 1992) und (seit 1994) und die Krimiserie mit inzwischen 50 Staffeln.

Darüber hinaus etablierte Thoma auch das Wirtschaftsmodell des Privatfernsehens in Deutschland, in dem er die Werbungtreibenden überzeugte, sie müssten die 14- bis 49-Jährigen erreichen, um deren Konsumgewohnheiten zu prägen. Das aber gelinge nur im privaten Fernsehen. Sein Argument lenkte Milliarden Euro in die Fernsehwerbung.

1998 schied Helmut Thoma bei RTL aus. Ein Comeback als Fernsehmanager misslang, als er im Jahr 2012 versuchte, aus mehreren regionalen TV-Sendern eine neue deutschlandweite Senderkette zu formen. Parallel engagierte sich Thoma als Aufsichtsrat im Mobilfunkunternehmen Mobilcom, das heute in Freenet aufgegangen ist.

Helmut Thoma war über Jahrzehnte der vermutlich klügste Kopf in der Fernsehbranche – und ganz sicher der Mann mit dem schönsten Wiener Schmäh. Ein idealtypisches Beispiel dafür lieferte er noch einmal 2010 in der (leider nicht online abrufbar). In dem Interview spottete er, er könne sich eher einen Job als „General der Prinzengarde“ beim Karneval in Köln vorstellen, denn als Intendant des ZDF. Und über den Bertelsmann-Konzern, seinen früheren Gesellschafter bei RTL, sagte Thoma: Wer in Gütersloh „nicht um den runden Tisch sitzt und gemeinsam die Knödel mampft, der ist draußen.“ Er selbst habe sich „dieses Zigeunerbaron-Gefühl mitten in Ostwestfalen als liebenswerte Erinnerung bewahrt.“

Seither wurde es ruhiger um Thoma, sei es, weil er weniger gefragt wurde, sei es, weil er selbst keine Lust mehr hatte, sich über das Fernsehen auszulassen. Eines aber ist gewiss: Seit Helmut Thoma sich zurückgezogen hat, ist das Reden übers Fernsehen oft langweilig geworden. Oder wie der Österreicher gesagt hätte: einfach fad.

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