Mit 15 Jahren
wurde ich das erste Mal gefragt, ob ich in einem von der Jungen Union
gestellten Drachenboot mitpaddeln möchte. So richtig wusste ich nicht, was das
bedeuten würde, aber weil mein Freundeskreis hier am Stadthafen in Boizenburg
im Boot saß, fragte ich nicht viel. Auf der Rückseite unserer Shirts stand „black
is beautiful“. Später trat ich in die CDU ein, im Wahlkampf trugen wir T-Shirts
mit dem Namen Angela Merkel und nach einem erfolgreichen Wahlkampf lud sie mein
Team sogar zum Frühstück ein.
Heute bin ich
fast doppelt so alt und immer noch in der CDU. Angela Merkel ist
schon seit vier Jahren nicht mehr Kanzlerin. Deutschland wird von
Friedrich Merz regiert, zu dessen Markenkern es gehört, der Antipode von Merkel
zu sein. Ihr Ansehen schwindet. Konservative geben ihr wegen ihrer Flüchtlingspolitik
die Schuld am Aufstieg der Rechtsradikalen. Grüne sagen, sie habe die
Klimarettung verschleppt. Manchmal gewinnt man den Eindruck, sie hafte für
jeden bummeligen ICE und jede baufällige Brücke.
Die Stimmung in
Deutschland ist eher mies, da muss einiges abgeladen werden. Nur dürfte, wer 16
Jahre lang regiert hat, ja wirklich für das eine oder andere verantwortlich
sein. Die Frage beschäftigt mich, ob man diese Frau heute noch gut finden kann
und wenn ja, warum überhaupt. Oder sind wir, die wir etwas Gutes mit dieser
Frau verbinden, heute nur noch eine Sekte?
Nochmal zurück
ins Jahr 2013, als ich im Drachenboot über die Elbe paddelte. Wir hatten als
ostdeutsche Generation Z kaum Interesse an Politik. Das lag auch
daran, dass unsere Eltern uns Politik nie als etwas Naheliegendes,
Notwendiges oder Selbstermächtigendes vermittelt haben. Politik war für viele
die Projektionsfläche für all das, was ihnen nach dem Mauerfall genommen wurde
oder was Helmut Kohl und andere ihnen versprachen und doch nicht einlösten.
Vielleicht haben wir gerade deshalb, entgegen der Erzählungen unserer Eltern,
ein Gefühl von Demut und Ehrfurcht gespürt, weil wir plötzlich erlebten,
dass Politik nicht nur Enttäuschung bedeutete, sondern auch Zugehörigkeit und
Bedeutung stiften konnte. Wenn Ossis Kanzlerin können, was bitte soll dann unmöglich
sein? Es war ein mächtiger Impuls, ein Kraftschub. Wenn man es in Kanzlern ausdrücken möchte,
hatte ein Kohl-Gefühl die Generation meine Eltern von der Politik distanziert.
Mir winkte ein Merkel-Gefühl.
Ich habe Glück,
dass ich in einer der anfälligsten Phasen meines Lebens, in meiner Jugendzeit,
in der die Identitäts- und Meinungsbildung gerade erst beginnt, bei einer
Partei im demokratischen Spektrum gelandet bin. Denn in den letzten Jahren und
nach jeder Krise mit doppelter Geschwindigkeit hat sich etwas im
vorpolitischen Raum in Ostdeutschland verändert. Heute sehe ich vor allem
Populisten, die dieses Vakuum mit einer aggressiven Emotion füllen, die
sie „Oststolz“ nennen.
Der Oststolz speist sich aus Wut, Kränkung und
Abgrenzung. Ein komisches Gemisch – und deswegen nicht mit ähnlichen
Entwicklungen im Westen vergleichbar –, bei dem man nicht mehr weiß, auf wen man
wütender sein soll: auf die Generation vor uns, weil sie nach der Wende zu
wenig Eigenverantwortung für sich selbst übernommen hat? Auf die Politik, weil
sie die Entwicklungen im Osten wie ein Schicksal hingenommen hat? Oder auf sich
selbst, weil wir es einfach verpasst haben, Jüngere nachzuziehen, zu fördern,
ihnen die politischen Spielregeln zu erklären?
Wer heute das
Gefühl nach Sinn, Zugehörigkeit und Orientierung sucht, landet daher nicht
selten bei der AfD. Weil die demokratischen Parteien, die das
einst boten, Stück für Stück verschwinden.
Auch ich bin
aus dem Osten verschwunden, zumindest auf unbestimmte Zeit. Ich arbeite für
eine CDU-Abgeordnete im Bundestag, bin daher oft in Berlin, aber viel kann ich
von Heidelberg aus machen, wo ich bis vor Kurzem studiert habe. Wer sich in
Elitenräumen durchsetzen will, kommt auch 35 Jahre nach der deutschen Einheit
nicht darum herum, sich Skills anzueignen, die vielen im Westen durch
Netzwerke, Herkunft und Selbstverständlichkeit in die Wiege gelegt sind.
An der
Universität angekommen, wurde schnell deutlich, dass Heidelberg ein anderer Ort
ist. In den Seminaren saß ich neben Kommilitonen, deren Eltern Professoren,
hohe Beamte oder Diplomaten waren. Anders als in Rostock, wo ich meinen Bachelor
absolviert habe. Statt des Statusbewusstseins der Westler in Heidelberg hatte
ich hier ein eher vages, unsicheres Gefühl für die Vergangenheit erlebt: Ach
ja, da war ja einmal dieser Arbeiter- und Bauernstaat namens DDR. Und ach ja, führende Akademiker wurden nach der Wende weitgehend durch Westdeutsche ersetzt.