Sie weinen der Ampel keine Träne nach

Der Mittwochabend ist zweifellos der bitterste Abend in der langen politischen Karriere des Olaf Scholz. Um 21.20 Uhr tritt er im Kanzleramt vor die Mikrofone und muss einräumen, dass seine Regierung gescheitert ist. Scholz blickt einmal in die Runde, atmet tief aus: „Meine Damen und Herren, ich habe den Bundespräsidenten soeben um die Entlassung des Bundesfinanzministers gebeten“, sagt er dann.  

Doch wer geglaubt hat, auf einen geknickten und niedergeschlagenen Scholz zu treffen, wird enttäuscht. Stattdessen wirkt Scholz fast befreit und so entschlossen wie lange nicht. Er habe an diesem Abend einen Vorschlag vorgelegt, der das Land aus der schweren Krise führen sollte, in der es sich befinde. Der Bundesfinanzminister habe allerdings keinerlei Bereitschaft gezeigt, sich darauf einzulassen. „Ein solches Verhalten will ich unserem Land nicht länger zumuten“, sagt Scholz.

Der ganze Unmut, der sich bei Scholz in den vergangenen drei Jahren über seinen Finanzminister angestaut hat, ihm lässt er an diesem Abend freien Lauf. Immer wieder habe er der FDP in den vergangenen Jahren Kompromisse angeboten, auf pragmatische Lösungen gedrängt, schimpft er. Doch zu oft habe Lindner blockiert, kleinkariert taktiert, sein Vertrauen gebrochen. Lindner gehe es nicht um das Gemeinwohl, sondern um das Überleben seiner Partei. Er selbst habe dagegen seinen Amtseid auf das Wohl des Landes geschworen. „Niemals werde ich akzeptieren, dass innere, äußere und soziale Sicherheit gegeneinander ausgespielt werden“, sagt Scholz, plötzlich wieder ganz Sozialdemokrat. 

Ein historischer Tag

Dass dieser bedeutungsschwere Mittwoch, der nun nicht nur in die amerikanischen, sondern auch in die deutschen Geschichtsbücher eingehen wird, so enden könnte, hatte sich bereits in den vergangenen Tagen abgezeichnet. Seit Finanzminister Christian Lindner in der vergangenen Woche ein Papier vorgelegt hatte, in dem er neben einigen Lieblingsprojekten der FDP wie der Abschaffung der kalten Progression auch für Spitzenverdiener eine vollständige Revision der Ampelpolitik gefordert hatte, war die Koalition im Krisenmodus. Denn allen Beteiligten war klar: Auf diese Forderungen konnten SPD und Grüne nicht eingehen, ohne sich selbst vollständig aufzugeben. Hinzu kam – nicht minder gewichtig – der Streit um die fehlenden Milliarden im Haushalt. Noch in dieser Woche musste eine Lösung her, wenn die Koalition ihr Zahlenwerk noch fristgerecht für das kommende Jahr verabschieden wollte.  

„Es steht mal wieder Spitz auf Knopf in der Regierung“, so sagt es die parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Irene Mihalic, als sie sich am Morgen dieses Tages mit Journalisten zum Pressefrühstück trifft. Und doch scheint die Lage da noch nicht ganz aussichtslos. Es ist absurderweise eine andere Großkrise, die manchem Ampelkoalitionär in diesem Moment noch Hoffnung macht: Seit den früheren Morgenstunden zeichnet sich ab, dass Donald Trump die Wahl in den USA gewinnen wird. Es ist angesichts der damit verbunden internationalen und wirtschaftlichen Unsicherheiten ein Super-GAU aus der Sicht der meisten Ampelpolitiker. Für die Zukunft der Ampel allerdings, hofft da noch mancher bei Grünen und SPD, könnte dieses Ergebnis zum Rettungsanker werden. In solch einer Situation könne auch ein Lindner die Regierung nicht platzen lassen, soviel staatspolitische Verantwortung müsse auch er noch mitbringen, heißt es.

Robert Habeck etwa verbreitet noch am Mittag Optimismus. Ein solches Wahlergebnis schaffe eine andere Realität, sagt er bei einem kurzen Auftritt in seinem Ministerium. Alle Gespräche, die er nun führe, seien „von großer Ernsthaftigkeit geprägt“. Bezieht sich das auch auf Lindner, mit dem sich Habeck bereits kurz zuvor gemeinsam mit Scholz erneut im Kanzleramt getroffen hat? Man kann ihn jedenfalls so verstehen. 

Noch um 18 Uhr scheint ein Scheitern vermeidbar

Am Nachmittag verhandeln Scholz, Habeck und Lindner dann weiter miteinander. Um 18 Uhr treffen im Kanzleramt schließlich auch die Partei- und Fraktionsvorsitzenden sowie einige andere Minister zum Treffen des Koalitionsausschusses ein. Auch da scheint ein positiver Ausgang noch möglich. In den Verhandlungen habe man sich aufeinander zubewegt, es lägen Lösungsvorschläge für die Haushaltsprobleme auf dem Tisch, Lindner sei kompromissbereit, heißt es aus Grünenkreisen.

Doch schnell wird klar: Hier war wohl der Wunsch der Vater des Gedankens. Denn was Scholz Lindner als Kompromiss anbietet, ist zwar tatsächlich ein umfassendes Unterstützungspaket für die Wirtschaft. So sollen Strompreise gesenkt, Arbeitsplätze in der Automobilindustrie gesichert, die steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten für Unternehmen ausgeweitet werden. Doch Scholz will eben auch mehr Geld für die Unterstützung der Ukraine bereitstellen. Dazu will er die Möglichkeit nutzen, in einer außergewöhnlichen Notsituation, wie sie aus seiner Sicht der Ukraine-Krieg ist, weitere Schulden aufzunehmen. Dies, so begründet es Scholz, sei gerade am Tag der Wahl von Donald Trump der richtige Ansatz, ein Zeichen zu setzen, dass Deutschland seiner internationalen Verpflichtung gerecht werden wolle. Dazu allerdings ist Lindner nicht bereit.  

Scholz‘ Vorschlag, einen sogenannten Überschreitungsbeschluss in Höhe von 15 Milliarden Euro zu fassen, wobei 12 Milliarden der allgemeinen Unterstützung der Ukraine dienen sollten und drei Milliarden für zusätzliche Waffenlieferungen genutzt werden sollen, kannte er natürlich schon, als dieser ihn im Koalitionsausschuss unterbreitet. Doch Lindner habe sich bis zum Abend nicht wirklich klar festgelegt, ob er sich auf diese Option einlassen wolle oder nicht, heißt es aus Koalitionskreisen. In der Runde soll Lindner dann vorgeschlagen haben, gemeinsam Neuwahlen anzustreben, dies aber erst später zu kommunizieren. Die Runde, heißt es, habe sich daraufhin zu Beratungen zurückgezogen. Doch nur Minuten später hätte dann bereits die -Zeitung von dem Vorschlag berichtet.

Die eine Indiskretion zu viel

Für Scholz war dies wohl die eine Indiskretion zu viel, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Zumal Scholz befürchten musste, dass Lindner auch diesmal nicht sein Worten halten, sondern den Regierungsbruch am nächsten Tag öffentlich machen würde – dann, wenn der Kanzler selbst nicht im Land, sondern in Budapest sein würde. Als die Runde wieder zusammenkam, teilte Scholz dem Finanzminister mit, dass er ihn entlassen werde.  

Lindner selbst tritt nur wenig später unter der Kuppel des Reichstags vor die Presse. Nicht nur Scholz – auch der Finanzminister wirkt an diesem Abend durchaus mit sich im Reinen und holt zum verbalen Gegenschlag aus. Olaf Scholz habe „lange die Notwendigkeit verkannt, dass unser Land einen neuen wirtschaftlichen Aufbruch benötigt, er hat die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger lange verharmlost“, hebt er an. Und er lenkt die Verantwortung für den Bruch auf den Kanzler: Scholz habe von ihm „ultimativ verlangt, die Schuldenbremse auszusetzen, dem habe ich nicht zugestimmt, weil ich damit meinen Amtseid verletzt hätte“. All seine Vorschläge, das Land auf Kurs zu bringen, habe Scholz „brüsk zurückgewiesen“.  

Dann verabschiedet er sich in Richtung des halb gefüllten Sitzungssaals seiner Fraktion, Applaus brandet durch die Tür, als er – nun als Oppositionspolitiker – den Raum betritt. Einstimmig wird sich die Fraktion später hinter den Kurs von Lindner stellen. Zwar hat Scholz nur Lindner entlassen, doch auch die anderen FDP-Minister wollen sich nun aus der Regierung zurückziehen.