Die
fünfstöckige Torte, vor der Margot Friedländer an ihrem 102. Geburtstag stand,
war fast halb so groß wie die zierliche Frau. Wie immer hatte sie in eine
repräsentative Privatvilla geladen, die nicht ihre eigene war, die Gäste waren
in der großzügigen Küche zusammengekommen. Die Torte, ein erbackenes Kunstwerk
von Martin Ehrmann, stand auf der Kochinsel, und als alle Kerzen angezündet
waren, begannen die Gäste zu singen. Friedländer, in
der Mitte stehend, das Gesicht auf Höhe der Kerzen, war hell erleuchtet. Sie
lächelte. Neben ihr stand der Bundespräsident, Frank-Walter Steinmeier, und nachdem
das Lied zu Ende war, alle applaudiert und gejubelt hatten, bliesen die beiden
gemeinsam die Kerzen aus. Also sie versuchten es. Denn es waren 102 Kerzen, die
auf dem Tortenplateau wie ein dichter Wald zusammenstanden. Schließlich
schafften sie es doch.
Dieser
Moment ist wie eine Metapher für das, was Margot Friedländer für viele Menschen
in Deutschland war. Ein Mittelpunkt. Ein Licht. Wie viele Leben in Berlin und
in ganz Deutschland hat sie in den vergangenen zwei Jahrzehnten wohl
bereichert? Seitdem sie, nach mehr als sechs Jahrzehnten in New York, 88-jährig
in ihre Heimat Berlin zurückgekehrt war. Als ich sie vor zwei Jahren besuchte,
holte Margot Friedländer irgendwann einen großen Stapel Kalender aus einer
Schublade, sie legte sich die Bücher auf den Schoß, begann zu blättern. Auf den
Seiten war notiert, wo sie überall schon gesprochen hatte und aufgetreten war,
in wie vielen Schulen Margot Friedländer ihre Geschichte erzählt hatte. Ihre
Geschichte, wie sie sich als deutsche Jüdin vor den Nationalsozialisten verstecken
musste, wie sie später im Konzentrationslager Theresienstadt überlebte – und
wie sie gerettet wurde. Als einzige ihrer direkten Familie überlebte
Friedländer die Schoah.
Botschafterin der Herzensbildung
Ihr Überleben sollte einen Sinn haben,
entschied Friedländer. Sie wollte Kinder
und Jugendliche für ihre Botschaft gewinnen, menschlich zu handeln, damit so
etwas wie während der Gewaltherrschaft der Nazis nie wieder geschehen kann: der
Mord an sechs Millionen Juden und vielen anderen mehr, die Friedländer nie zu
erwähnen vergaß. Sie war eine Botschafterin der Herzensbildung. Der Historiker
Michael Wolffsohn hat kürzlich gesagt, für Herzensbildung brauche es kein
Wissen, brauche es keinen Universitätsabschluss. Herzensbildung setze früher
ein. Margot Friedländer hat genau das getan: Sie hat zur Herzensbildung von
vielen Hunderttausend Deutschen beigetragen.
Ihre
Autobiografie, erstmals 2010 erschienen, ist inzwischen mehrfach aufgelegt worden.
Friedländer selbst ist vor allem in den vergangenen zwei Jahren, spätestens
seit dem 7. Oktober 2023, mit ihrer einfachen, aber so kraftvollen Botschaft – seid Menschen! – auf zahlreichen Bühnen aufgetreten, war immer wieder im
Fernsehen zu sehen. Sie wurde interviewt, sie wurde gefragt, sie wurde gefeiert.
Noch am Tag ihres Todes sollte sie mit dem Großen Bundesverdienstkreuz des Verdienstordens der
Bundesrepublik geehrt werden; das Bundesverdienstkreuz am Bande hatte sie
bereits 2011 erhalten.
Wer
in die Nähe von Margot Friedländer geriet oder angezogen wurde von ihrem Wesen,
bemerkte schnell, wie groß ihr Wirkungskreis gewesen ist. Ein Jahr nach dem
Geburtstag mit der fünfstöckigen Torte, zu Friedländers 103., kamen nicht nur
der Bundespräsident, sondern auch die damalige Präsidentin des Bundestags,
Bärbel Bas, und die damalige Bundesbildungsministerin Barbara Stark-Watzinger. Gastgeber
war an diesem Abend nicht mehr wie in all den Jahren zuvor die Familie Einhäupl,
in deren Privatvilla Friedländer empfangen hatte, sondern der
Vorstandsvorsitzende des Axel Springer Verlags, Mathias Döpfner.
Eine menschliche Verbindung
Viele
einflussreiche Menschen und Freunde wollten sich um Friedländer scharen,
gehörten inzwischen zu ihrem Kreis. Darunter der ehemalige Berliner
Bürgermeister, der regierende Bürgermeister der Hauptstadt, ihre langjährige
Freundin, die frühere Kulturstaatsministerin Monika Grütters, die zugleich die
Vorsitzende der Margot Friedländer Stiftung ist. Es kamen Professoren, Honoratioren,
„die Ärzte von Margot“ (eine stehende Redewendung in ihrem Freundeskreis), Chefinnen
und Chefs von gemeinnützigen Organisationen, Journalisten, Schauspieler.
Doch
nicht nur einflussreiche Menschen suchten Margot Friedländers Nähe. Sie
schaffte es, Menschen egal welchen Alters anzuziehen. Wenn Friedländer
beschrieben wird, heißt es oft, dass sie klein und zierlich gewesen sei. Was
stimmt. Fast wirkte sie zerbrechlich. Indem sie sprach, erzählte, erinnerte, erschien
sie jedoch unglaublich stark. Sie war eine große Persönlichkeit. Die menschliche
Verbindung zu einer Vergangenheit, die diejenigen, die sie nicht miterlebt
haben, noch immer nicht begreifen können.
Eine
überlebensgroße Bedeutung erlangte sie angesichts einer Welle des Antisemitismus,
die nach dem 7. Oktober in Deutschland offenbar geworden war. Friedländer war
ein Anker und ein Anziehungspunkt für all jene, die ihr politisches Leben und
ihr gesellschaftliches Engagement der Erinnerung an den Holocaust gewidmet
haben. In ihrem Angesicht spürte man auch bei Mathias Döpfner, dem hünenhaften
Vorstandschef von Axel Springer, jedes Mal die Ehrfurcht, die er vor ihr hatte.
Ihr
engster Vertrauter in den vergangenen Jahren war Karsten Dreinhöfer, Chefarzt an
der Charité. Dreinhöfer sorgte für Friedländer, kümmerte sich praktisch täglich
um sie, so als wären sie Familie. Irgendwann unterstützte er sie dabei, Termine
zu koordinieren, ihre eigene Stiftung zu planen und begleitete sie praktisch
immer, wenn sie irgendwo eingeladen war oder einen Auftritt hatte. Ohne ihn
wäre Margot Friedländers Wirkungskreis in den vergangenen Jahren kleiner
gewesen.
Geste wie die britische Queen
Margot
Friedländer liebte dieses Leben und die Gesellschaft, und sie genoss es,
umschwärmt zu werden. Dass sie von Opern- zu Theaterpremiere plante, von
Staatsempfang zu Preisverleihung, vom eigenen Geburtstagsfest bis hin zu Einladungen
bei ihren Freunden, war eine essenzielle Quelle ihrer Lebensfreude. Sie ließ
nichts aus, was ihre Gesundheit zuließ. Fröhlich und durchaus huldvoll schaute
sie diejenigen an, die dann Schlange standen, um sich mit ihr fotografieren zu
lassen, die ihren Modegeschmack lobten oder sich für ihr Engagement
bedankten. Wenn die Menge zu groß war, winkte Friedländer auch manchmal einfach
mit einer Hand, die Geste erinnerte ein bisschen an die britische Queen. Besonders
schön fand Friedländer es, wenn der Bariton Max Raabe ihr wieder einmal einige
Lieder aus den 1920er-Jahren vorsang.
Wie viel Energie ihr die Teilhabe am öffentlichen Leben gab, lässt sich an einer kleinen Anekdote erkennen.
Im Sommer vor zwei Jahren erholte sie sich gerade von einem Rippenbruch, sie war beim
Wäscheaufhängen gestolpert, zwischenzeitlich machten sich ihre Ärzte wirklich Sorgen.
Doch Margot Friedländer wurde wieder, und weil sie wieder wurde, wenn auch
unter Schmerzen, setzte sie sich an ihren Computer und schrieb eine E-Mail an
das Bundespräsidialamt. Sie würde sehr gerne zum Sommerfest des
Bundespräsidenten kommen, tippte sie. Das Bundespräsidialamt hatte sie wohl aus
Rücksicht auf ihren Gesundheitszustand nicht gefragt oder war unsicher gewesen,
also meldete sich Margot Friedländer selbst. Einen Tag später erhielt sie eine Einladung
und wurde mit dem Auto bis zum Eingang von Schloss Bellevue vorgefahren, was
sonst allenfalls Staatsgästen vorbehalten ist. Aber als die Sicherheitsleute
sahen, wer dort im Auto saß, durfte sie direkt an der ausladenden Treppe aussteigen.
Eine eigene Stiftung
Vor
einem halben Jahr hat Margot Friedländer die Preise ihrer Margot Friedländer Stiftung
verliehen. Sie gingen an Projekte, die sich für ein menschliches Miteinander,
für Freiheit, Demokratie oder für die Erinnerung an den Holocaust engagieren. Es hatte schon in den Jahren zuvor einen
Friedländer-Preis gegeben, der Schulprojekte auszeichnete, und den Friedländer
gemeinsam mit der Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa ausgelobt hatte. Es war
eine Initiative, die sie gemeinsam mit dem früheren Berliner Kultursenator
André Schmitz-Schwarzkopf angestoßen hatte. Dieser hatte sie im Jahr 2003 nach
Berlin eingeladen und mit dazu beigetragen, dass Friedländer in ihre alte
Heimat zurückkehrte.
Doch
dann beschloss Margot Friedländer, dass es eine eigene Stiftung brauche, um ihr
Werk und ihre Botschaft weiterzutragen, wenn sie einmal nicht mehr sein würde. Die
Preisverleihung fand im Berliner Humboldt Forum statt. In dem großen Saal im
Erdgeschoss waren wieder einmal mehrere Hundert Menschen zusammengekommen, um
Friedländer zu unterstützen und durch ihre Anwesenheit das Versprechen zu geben,
in ihrem Sinne wirken zu wollen.
Einer
der Preise ging an den Verein Zweitzeugen, der in Schulen die Erinnerungsarbeit
von Friedländer und anderen fortsetzt. Denn nur noch sehr wenige Überlebende
des Holocaust können ihre Geschichte selbst erzählen. Margot Friedländer, 103
Jahre alt, stand also auf der Bühne, in den Händen die Urkunde. Fast schien es,
als verschwinde sie dahinter. Der Moment war wie ein Vorbote dessen, von dem
alle Anwesenden wussten, das es irgendwann eintreten würde. Der Mensch Margot
Friedländer würde nicht mehr sein, aber ihre Botschaft und ihre Stiftung würden
bleiben.
Am
9. Mai ist Margot Friedländer gestorben.