Sie hat die Gummistiefel vergessen. Seit Stunden regnet es und Annalena Baerbock stapft mit ihren glänzenden Halbschuhen durch den Matsch auf dem Gelände des Umspannwerks. Vor etwa zwei Jahren war sie schon einmal hier im Norden der Ukraine, an dieser Lebensader, die nicht genauer beschrieben werden darf, weil sie Millionen Menschen mit Strom versorgt.
Umspannwerke sind ständig im Visier der russischen Luftwaffe. Daran ändert auch die mit Russland vereinbarte 30-tägige Waffenruhe für kritische Infrastruktur nichts. Der Direktor des Werks zeigt Baerbock, wie sie sich seit ihrem letzten Besuch an die russische Kriegsführung angepasst haben: Die Transformatoren werden nun unter die Erde verlegt, um sie vor russischen Drohnen und Raketen zu schützen. „Kommen Sie nächstes Jahr wieder“, sagt er und lächelt. Baerbock nickt und schweigt.
Denn nächstes Jahr wird Annalena Baerbock voraussichtlich Präsidentin der UN-Versammlung in New York sein. In den kommenden Wochen wird verkündet, wer auf ihren Posten im Außenministerium folgt. Was aber bleibt von ihr, der ersten Frau auf diesem Posten? Zwei Großkrisen bestimmten ihre Zeit als Außenministerin: der Krieg im Nahen Osten und der russische Angriffskrieg. Nun fährt sie noch einmal den östlichen Krisenbogen ihrer Amtszeit ab, eine letzte Reise in die Ukraine, Moldau und nach Brüssel, dorthin, wo die Lösung für diese geopolitischen Lagen gefunden werden könnte: zur Nato.
Irgendwann wurde ihr ganzes Team ausgetauscht. Nur sie nicht
Wenn man Annalena Baerbock auf ihren vielen Auslandsreisen begleitet, verdichtet sich die Zeit. Wie viele Tage sind wir schon unterwegs, was, erst einen? Schlaf? Luxus für später! Einmal war sie zum G20-Treffen nach Rio de Janeiro in Brasilien gereist, von dort aus ging es weiter zur UN-Vollversammlung nach New York. Auf dem Rückweg nahm sie den ukrainischen Außenminister im Regierungsflieger mit, und weil der dritte Jahrestag des russischen Angriffskriegs bevorstand, reiste sie umgehend weiter in die ukrainische Hafenstadt Odessa, dann nach Mykolajiw, wo plötzlich eine russische Beobachtungsdrohne über ihr kreiste und sie ihren Termin abbrechen musste, ab in die gepanzerten Wagen, mit Vollgas zurück. Sonntagabend Rückkehr nach Berlin, Montag in aller Frühe weiter zum Menschenrechtsrat nach Genf, um eine Rede zu halten. Irgendwann habe sie gemerkt, dass während dieser Reisen ihr ganzes Team ausgetauscht wurde. Nur sie nicht, geht ja nicht.
Vielleicht sind Abschiede wärmer als Anfänge
Auch diese letzte Reise in die Ukraine ist so voll, als seien die Tage dehnbar. An einem Nachmittag empfängt Wolodymyr Selenskyj Annalena Baerbock ein letztes Mal. Die Fahrt zum Präsidenten gleicht dem Besuch einer Hochsicherheitszone. Die Autos fahren entlang mit Checkpoints abgesperrter Straßen. Der prächtige Präsidentenpalast gleicht einem Bunker, Sandsäcke schützen die Fenster. Schließlich herrscht Dunkelheit – das Licht ist ausgefallen.
Baerbock hat Selenskyj oft erlebt. Mal zuversichtlich, oft düster und schrecklich übermüdet. An diesem Tag scheint er besserer Dinge zu sein. Als ihn bei der gemeinsamen Pressekonferenz ein Journalist fragt, ob er darauf hoffe, dass Friedrich Merz als Kanzler Taurus-Marschflugkörper liefert, sagt Selenskyj auf Englisch: „Ich finde das richtige Wort nicht. Es ist mehr als Hoffnung!“ Und lacht.
Bei diesem Treffen bringt Baerbock noch einmal die Zusage für 130 Millionen Euro mit, um die Ukraine zu stabilisieren. Für die Verteidigung verkündet sie drei Milliarden Euro, um die sie mit Boris Pistorius an ihrer Seite mit Scholz gestritten hat. Sieben Milliarden, sagt sie, würde Deutschland dieses Jahr für die ukrainische Rüstung ausgeben. Und nun, in diesem verbarrikadierten Zentrum der Macht, angesichts einer sehr düsteren Zukunft für die Ukraine, erzählt Baerbock vor den ukrainischen Journalisten die Geschichte der deutschen Schuldenbremse und ihres Endes, das auch das Ende der Ampelkoalition und ihrer Laufbahn als Außenministerin bedeutete. Als wolle sie noch mal zeigen, wie ernst sie es meinte: Sie, die noch im Januar 2022 Waffenlieferungen für die Ukraine ablehnte, ist gut zwei Jahre später die Ministerin, die für die umfangreiche Hilfe für die Ukraine einen Preis bezahlt hat. Selenskyj dankt ihr persönlich. „Ich weiß, dass es ein großer persönlicher Beitrag ist.“ Er revanchiert sich mit dieser gemeinsamen Pressekonferenz: Eine Außenministerin, die mit einem Präsidenten zu Medienvertretern spricht, sieht das deutsche Protokoll jedenfalls nicht vor.
Vielleicht sind Abschiede wärmer als Anfänge. Man muss nichts mehr beweisen. Nichts mehr aufrechnen. Kann sich feiern lassen. So dankt der ukrainische Außenminister Annalena Baerbock für „ihre Führung“ und zückt feierlich eine Medaille. Die Mitarbeiter der deutschen Botschaft verabschieden sich mit einem Geschenk: einem schwarzen Kapuzenpulli, auf den zwei zusammenpassende Puzzle-Stücke in den Farben Deutschlands und der Ukraine gedruckt sind. In Moldau dankt der Premierminister „dir, Annalena und allen, die schnell Moldau geholfen haben und der Ukraine“. Das kleine Land stand 2022 vor dem Kollaps, als es noch von Russlands Energie abhängig war. Baerbock half, wenige Monate nach dem russischen Angriffskrieg eine Unterstützerplattform für Moldau aufzustellen. Denn von der Ukraine reden alle. Von Moldau niemand.