Mit Pappschildern, Türkei-Flaggen und Taucherbrillen stellen sie sich schwer bewaffneten Polizisten entgegen: In der Türkei sind am Sonntag den fünften Tag in Folge Hunderttausende auf die Straße gegangen, um gegen die Verhaftung des Oppositionspolitikers und Erdogan-Rivalen Ekrem Imamoglu (53, CHP) zu protestieren. Es sind die größten Demonstrationen des Landes seit zehn Jahren.

Imamoglu – eigentlich Bürgermeister von Istanbul – ist seit Sonntag seines Amtes enthoben. Der türkische Präsident Recep Erdogan (71, AKP) versucht, seinen Konkurrenten mit allen Mitteln auszuschalten. Es geht um Korruptions- und Terrorismus-Vorwürfe. Eine Farce nennen es die Anhänger Imamoglus.

Besonders in Istanbul sind die Proteste massiv und werden zunehmend gefährlich. Die jahrelang aufgestaute Wut der Menschen – viele von ihnen noch jung – scheint sich jetzt zu entladen. Wut auf über fast 40 Prozent Inflation, schlecht bezahlte Jobs trotz Studium. Wut auf Erdogan.

Fotos von Nachrichtenagenturen aus der Nacht zeigen, wie sich Menschen den Polizeikräften entgegenstellen. Manche tragen Gasmasken, andere nur Sonnenbrillen. Sie schwenken die türkische Flagge, sie halten Protestschilder hoch, sie kämpfen für ihre Freiheit. Es geht längst um viel mehr als um Ekrem Imamoglu. Es ist ein Kampf des westlich-orientierten Istanbuls gegen eine sich anbahnende türkische Diktatur.

In der Türkei gilt der Satz: „Wer Istanbul verliert, verliert auch die Türkei.“

Gewalt, Festnahmen

Die türkische Polizei ging mit Wasserwerfen, Pfefferspray und Schlagstöcken gegen die Demonstranten vor. Hunderte Menschen wurden festgenommen. Im Morgengrauen wurden dann auch die verhaftet, die den Mut hatten, aus der Nacht zu berichten: Laut Oppositionsmedium „Halk TV“ wurden mindestens elf Journalisten, darunter auch Fotoreporter, festgenommen und auf ein Polizeirevier in Istanbul gebracht.

Ein Video auf der Plattform X zeigt die Journalistin Ebru Çelik mit verfärbter Wange und verstörtem Gesichtsausdruck. Sie schreibt für die regierungskritische Zeitung „BirGün“. „Halk TV“ berichtet, dass sie von der Polizei auf der Demonstration in Istanbul geschlagen wurde, obwohl sie als arbeitende Journalistin dort war.

Kritische Stimmen sind in den türkischen Medien unter Erdogan schon lange nicht mehr gewünscht.

„Ich habe unglaubliche Angst“

Die wenigsten möchten sich mit Gesicht und Namen vor der Kamera zeigen. Eine, die es trotzdem tut, ist Mevlüde Karataş. Sie sagte zur Nachrichtenagentur Reuters am Rande der Proteste am Sonntag Istanbul: „Ich habe im Moment unglaubliche Angst. Wir haben schon gesehen, dass Verhaftungen begonnen haben. Das ist Unterdrückung.“

Ein junger Mann, der nur Cumali genannt werden will, äußerte sich gegenüber Reuters: „Wir erleben vielleicht die bedeutendsten Tage unserer Demokratie in den letzten 100 Jahren.“

Auch in Ankara, wo ebenfalls aktuell Demonstrationen offiziell untersagt sind, setzten Tausende Menschen die Proteste fort.

Reguläre Präsidentenwahlen in der Türkei sind für 2028 angesetzt. Erdogan könnte sie jedoch vorziehen, um womöglich selbst noch einmal anzutreten.