Selenskyjs Wahlankündigung ist diplomatisches Theater

Auf den ersten Blick stellt sich die Lage so dar: Während der russische Krieg gegen die Ukraine andauert und Angriffe gegen die ukrainische Energieinfrastruktur immer heftiger werden, stellt Präsident Wolodymyr Selenskyj Wahlen in Aussicht – während weiter gekämpft wird. US-Präsident Donald Trump hatte in einem Interview mit erneut auf Neuwahlen gedrängt. Selenskyj reagierte darauf am Dienstagabend und sagte, er sei dazu bereit. In 60 bis 90 Tagen könne sich die Ukraine darauf vorbereiten, unter einer Bedingung: Die USA und die europäischen Partner müssten die Sicherheit der Wahlen gewährleisten.

Wer allerdings glaubt, damit rückten Wahlen in der Ukraine näher, irrt. Selenskyjs Äußerungen haben einen klaren außenpolitischen Rahmen. Die Regierung in Kyjiw befindet sich in einem äußerst schwierigen Verhandlungsprozess mit den USA. Trump und seine Leute verfolgen ihr Ziel, einen wie auch immer gearteten Frieden, mit immensem Druck auf die schwächere Ukraine und eher weniger auf Russland. Und natürlich will die Ukraine die noch vorhandene Unterstützung der USA – Waffen, Munition, Aufklärungsdaten – nicht verlieren. Also will sich Selenskyj gegenüber Trump konstruktiv und kompromissbereit zeigen. Man könnte auch sagen: Er spielt diplomatisches Theater für einen einzigen Zuschauer, und der sitzt im Weißen Haus.

Trump macht sich angeblich Sorgen über die Demokratie. Dass im Angreiferland Russland ein tatsächlicher „Diktator ohne Wahlen“, wie er Selenskyj schon einmal bezeichnet hat, seit mehr als 25 Jahren an der Macht ist – stört ihn offenbar wenig. Die Regierung in Kyjiw nimmt es hin, schweigt dazu zumindest öffentlich. Selenskyjs „Wahlankündigung“, so haben es ja viele im Westen interpretiert, ist in diesem Kontext der mit Abstand billigste „Kompromiss“, mit dem der ukrainische Präsident auf Trump zugehen konnte. Zum einen ist es während des aktiven Kriegs und vor einem halbwegs stabilen Waffenstillstand fast unmöglich, Wahlen abzuhalten. Zumal die USA und Europa zu deren Sicherheit realistischerweise nichts beitragen können. Zum anderen: Sollte ein Wunder geschehen und eine Abstimmung doch
möglich werden, hätte Selenskyj bei Wahlen im Krieg wohl die besten Chancen, sie zu gewinnen.

Warum Wahlen im Krieg unwahrscheinlich sind

Zunächst zur rechtlichen Komponente: Die ukrainische Verfassung darf während des Kriegsrechts nicht geändert
werden. Dafür wäre auch in Friedenszeiten eine schwer erreichbare Mehrheit nötig. Die Verfassung sieht ohnehin nur ein indirektes Verbot der Parlamentswahlen unter Kriegsrecht vor. Das Verbot der anderen Wahlen im Krieg, also auch von Präsidentschaftswahlen, steht in der Wahlgesetzgebung, die mit einfacher Mehrheit geändert werden könnte. Aber ein Selbstläufer wäre auch das nicht. Die absolute Mehrheit der Präsidentenpartei Diener des Volkes existiert seit Jahren nur auf dem Papier – und die Parlamentsopposition setzt sich zwar für eine sogenannte Regierung der nationalen Einheit ein, ist allerdings, ähnlich wie ein Großteil der ukrainischen Bevölkerung, gegen Wahlen im Krieg. Ihr Argument: Das würde die innenpolitische Lage destabilisieren, zugunsten von Russland.

Wäre der politische Wille da, wären Gesetzesänderungen aber umsetzbar. Wenn es um wichtige Entscheidungen geht, setzt die Regierung in Kyjiw längst nicht mehr nur auf die Präsidentenpartei, sondern auch auf die Hilfe anderer Abgeordnetengruppen – etwa auf die im Parlament verbliebenen einstigen Abgeordneten der verbotenen prorussischen Partei Oppositionsplattform, die sich selbst ironisch als „politische Gefangene“ bezeichnen. Sie lassen sich leicht beeinflussen: Stimmen sie nicht für die Vorschläge des Präsidenten, könnte sich in der aufgelösten Partei des engen Putin-Verbündeten Wiktor Medwedtschuk sicher ein legitimer Grund für ein Staatsverratsverfahren finden, rein zufällig.

Es bleibt der Sicherheitsaspekt, der kaum gelöst werden kann. Schon im Herbst 2023 gab es aus dem Westen erste Andeutungen, es wäre ein schönes Zeichen, wenn in der Ukraine trotz allem planmäßig Wahlen abgehalten würden, während Putin sich in Russland „wiederwählen“ lässt. Es kam nicht dazu. Wie sollen Wahlen auch halbwegs sicher möglich sein, wenn jederzeit und überall im Land eine russische Rakete einschlagen kann? Selbst die westlichste Region der Ukraine, Transkarpatien, ist inzwischen Ziel russischer Angriffe. Und es gibt viel zu viele front- und grenznahe Großstädte wie Charkiw, Cherson, Saporischschja oder Sumy, in denen nahezu täglich russische Raketen einschlagen, bevor ein Alarm zu hören ist. Ähnlich wie in der Hauptstadt Kyjiw, wenn auch seltener.