Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj will mit seinem Einlenken bei einem umstrittenen Gesetz zu den Antikorruptionsbehörden seines Landes angemessen auf Proteste gegen das Gesetz reagiert haben. „Es ist völlig normal, zu reagieren, wenn Menschen etwas nicht wollen, oder wenn ihnen etwas nicht gefällt“, sagte er. „Für mich war es sehr wichtig, dass wir zugehört und angemessen reagiert haben.“
Das ukrainische Parlament hatte am Dienstag in Eiltempo ein Gesetz verabschiedet, wodurch das nationale Antikorruptionsbüro (Nabu) und die Sonderstaatsanwaltschaft zur Bekämpfung der Korruption (Sapo) ihre Unabhängigkeit verlieren sollten. Die beiden nach der Revolution 2014 geschaffenen Behörden sollten künftig dem Generalstaatsanwalt unterstellt werden. Dieser wird in der Ukraine vom Präsidenten in Abstimmung mit dem Parlament ernannt. Da Selenskyjs Partei Diener des Volkes im Parlament nahezu über eine absolute Mehrheit verfügt, befürchteten Kritiker, dass die Antikorruptionsbehörden damit faktisch unter Einfluss des Präsidentenbüros stehen würden.
Neuer Entwurf soll Unabhängigkeit der Antikorruptionsbüros wahren
Dem Gesetz zufolge sollte der Generalstaatsanwalt den Behörden künftig Weisungen erteilen und ihre Ermittlungen an andere Justizorgane weitergeben können. Die Behörden sprachen von einer faktischen „Zerstörung“ ihrer Unabhängigkeit. Kritiker beklagten zudem das intransparente Verfahren, in dem das Gesetz beschlossen wurde: Die Änderungen wurden in einer überraschenden Ausschusssitzung in einen Gesetzentwurf geschrieben, der ursprünglich andere Themen betraf. Seit Dienstag protestierten in Kyjiw und mehreren weiteren ukrainischen Städten Tausende Menschen gegen das Gesetz. Es sind die größten Proteste seit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine.
Die „angemessene“ Reaktion darauf, von der Selenskyj nun spricht, bezieht sich auf einen neuen Gesetzentwurf, den der Präsident inzwischen vorgelegt hat. Dieser sieht vor, dass die Antikorruptionsbehörden ihre Unabhängigkeit behalten. Auch nach Selenskyjs Einlenken gingen die Proteste weiter, allerdings nahmen weniger Menschen als in den Tagen davor an ihnen teil.
Die betroffenen Behörden zeigten sich zwar erfreut über die Reaktion des Präsidenten. Aktivisten kritisieren jedoch, dass der neue Entwurf einer Rücknahme des bereits beschlossenen Gesetzes nicht gleichkommt. Zudem geht das ukrainische Parlament demnächst in eine vierwöchige Sommerpause, sodass unklar ist, wie lange die Unabhängigkeit der Antikorruptionsbehörden bis Inkrafttreten des neuen Entwurfs eingeschränkt bleibt.
Lügendetektortests für Staatsbedienstete
Der gesetzlichen Beschneidung der Rechte von Nabu und Sapo waren Durchsuchungen bei den beiden Antikorruptionsbehörden zuvorgekommen. Der Inlandsgeheimdienst SBU nahm dabei einen Nabu-Mitarbeiter fest, dem die Weitergabe von Informationen an Russland vorgeworfen wird. Auch Selenskyj rechtfertigte die Novelle mit dem Ziel, die Behörden gegen russischen Einfluss schützen zu wollen. Er nannte allerdings keine konkreten Vorfälle, welche die Antikorruptionsbehörden betreffen sollten.
Maßnahmen gegen russische Einflussnahme finden sich auch in dem neuen Gesetzentwurf. So sollen die Behörden zwar ihre Unabhängigkeit behalten. Dafür aber müssten künftig alle Mitarbeiter staatlicher Stellen, die Zugang zu geheimen Informationen haben, regelmäßigen Lügendetektortests unterzogen werden.
Unklar ist allerdings, welche Behörde dafür verantwortlich sein soll: Nach Angaben des Nabu sollen diese Kontrollen nicht vom SBU, sondern von einer internen Kontrollstelle vorgenommen werden. Aus dem auf der Website des Parlaments veröffentlichten Text geht hingegen hervor, dass die erste Kontrolle vom SBU vorgenommen werden soll und erst nachfolgende Tests von verwaltungsinternen Stellen.
Angestrebter EU-Beitritt abhängig von Kampf gegen Korruption
Korruption ist ein seit Jahrzehnten anhaltendes Problem in der Ukraine, das innenpolitische Debatten häufig dominiert. Die Lage hat sich seit der Revolution 2014 und den anschließenden Reformen zwar deutlich verbessert, bleibt aber noch weit hinter EU-Standards zurück. So lag die Ukraine im Korruptionswahrnehmungsindex der Organisation Transparency International 2013 noch auf Platz 144 von etwa 180 Ländern. 2021 lag das Land auf Platz 122, im vergangenen Jahr auf Platz 105. Das EU-Land mit dem schlechtesten Wert ist Ungarn (Platz 82), unter allen europäischen Ländern rangiert Russland mit Rang 154 auf dem letzten Platz.
Selenskyjs Einlenken dürfte dementsprechend nicht nur von inländischem Protest motiviert sein. Auch die EU und die G7 sowie einzelne EU-Länder, darunter Deutschland, hatten das ursprüngliche Gesetz deutlich kritisiert, da es den ukrainischen EU-Beitritt gefährde. Erfolge beim Kampf gegen Korruption gehören zu den wichtigsten Bedingungen der EU-Kommission für eine künftige Aufnahme der Ukraine.