Außenseiter hatten einmal einen Ruf zu verlieren. Gerade in intellektuellen Kreisen galten sie als unangepasst, schräg, innovativ. Ob Nerd, Dissident oder Avantgardist: Der Außenseiter hatte etwas, wonach sich viele insgeheim sehnten – einen klaren Blick von der Seite, aus der Distanz des Abseits. Und war nicht auch Sokrates, der Urvater aller Kritikaster, ein solcher Außenseiter? Einer, dem man die Verführung der Jugend und die Einführung neuer Götter vorwarf, bevor man ihn per Giftbecher unsterblich machte? Doch der Begriff ist futsch, Querdenker haben ihn ruiniert, und wilde Techunternehmer entpuppten sich als Opportunisten. Der Außenseiter, lange Projektionsfläche für Unabhängigkeit und geistige Freiheit, steht unter Generalverdacht: unbequem, ja, aber wofür und für wen?
Der Philosoph Ralf Konersmann will das nicht hinnehmen. Er will den „Schwierigen und Unwillkommenen“ verteidigen, gerade weil heute schnell der Eindruck entsteht, es gehe diesem nur noch ums Stören. Und es stimmt ja: Ohne die Einzelnen, Versprengten, Abseitigen lässt sich die Geschichte des Denkens gar nicht erzählen. Das Selbstdenken war selten eine Erfindung der Akademien und Universitäten, es gedeiht auch nicht dort, wo permanent Menschen abgeholt, mitgenommen oder umarmt werden müssen. Es wächst vielmehr an den Rändern. In den Salons der Pariser Aufklärung, wo die entstand. In den elterlichen Garagen, in denen blasse Jungs vor sich hin tüfteln. Immer geht es darum, die eigene Existenz in die Waagschale zu werfen, sich gegen die Autoritäten Gehör zu verschaffen. Das unterscheidet den Selbstdenkenden von allen anderen schrägen Vögeln. Und auch von den Einsamen, Verlassenen, Fremden oder Marginalisierten.
Konersmann lädt zu einer Grand Tour durch die Geschichte des außenseiterischen Denkens ein. Er eröffnet sie mit dem französischen Aufklärer und Naturverehrer Jean-Jacques Rousseau. Für ihn ist Rousseau vielleicht der Erste, der in seinen von 1782 das große Dilemma moderner Gesellschaften formuliert: dass sie, einst entzündet vom Feuer der Emanzipation, diesen Funken allzu rasch in einem Regime der sozialen Anpassung ersticken. In Rousseaus leidenschaftlichen Selbstbeschreibungen erkennt Konersmann den Prototyp des radikal Vereinzelten, der mit leuchtendem Trotz erfährt: Die eigene Innenwelt mag sich den sozialen Erwartungen nicht fügen. Dann gilt es eben, genau dagegen aufzubegehren.
Konersmann, der lange in Kiel lehrte und inzwischen emeritiert ist, macht den Außenseiter zum Signum der Moderne, zu ihrer Korrektur, ihrem Verdrängten. Störenfriede wie den antiken Habenichts Diogenes von Kyrene gab es auch schon viel früher. Auf Raffaels Fresko lagert er zentral auf den Stufen und legt sich den beiden anderen Hauptfiguren, Platon und Aristoteles, geradezu demonstrativ in den Weg. Aber ebendiese mittige Stellung, dieses Eingebundensein unter dem steinernen Bogen der tempelartigen Halle, mache ihn zu einem Teil des Ganzen. Erst die Immanenz der Moderne, der Zusammenschluss aller zu einem großen Wir, das nichts über oder neben sich anerkennt, bringe den Außenseiter im eigentlichen Sinne hervor. Seither nehme diese diffuse und umkämpfte, aber jederzeit anrufbare Instanz dieses Wir für sich in Anspruch, über Zugehörigkeit zu entscheiden: „zu entscheiden, wer zu dem von ihr selbst verkörperten Kern der Gesellschaft gehört und wer die Anderen sind“. Der Wahlspruch des Außenseiters, so darf man Konersmann verstehen, lautet: „Wenigstens anders“. Ein letzter Versuch, um im stahlharten Gehäuse des Konsenses nach einem Ausgang zu suchen.
Man merkt: Konersmann ist in der Sache kein Unbeteiligter. Wie schon in seinem 2021 erschienenen Buch spürt er auch diesmal einer Welt nach, die sich bis in die feinsten Kapillaren ausbreitet und dabei das Maß, den Takt, vielleicht auch sich selbst verloren hat. Mitunter kippt das ins Manierierte, etwa wenn er von der „dissidenten Form“ des Essays spricht und damit natürlich seinen eigenen meint. Als würden da draußen nicht Tausende Essays ständig geschrieben. Vermutlich auch alle von Dissidenten, Renegaten, Helden der Abweichung.
Und trotzdem: Indem Konersmann den Außenseiter ernst nimmt und ihn zum Kind der Moderne erklärt, dreht er den Spieß um: Nicht nur der Außenseiter steht in der Pflicht, Unruhe zu stiften. Auch die sozial Zugehörigen, drinnen im Warmen, müssen ins Risiko gehen, sich lösen von der Idee einer Gesellschaft der Gleichgesinnten, von einer Gemeinschaft, in der alle Pfeile in dieselbe Richtung zeigen. Die Moderne bleibt nur dann sie selbst, wenn sie Platz lässt für jene, die ausscheren, die auf ihrem Eigensinn bestehen. Auch sie hat einen Ruf zu verlieren.