Schematisch, praktisch, schlecht

Man malt sich schon wieder den
Charakter des nächsten Migrationsstreits aus: schematisch, praktisch,
schlecht. Es wird diejenigen geben, die sich in strenger Pose gefallen. Die
sagen: Wer ausreisepflichtig ist, keiner erwerbsmäßigen Arbeit nachgeht, sich
sogar nicht einmal darum bemüht, obwohl er es behördlich kann und darf, und
dann auch noch in seiner Unterkunft randaliert, der möge doch bitte
schnellstmöglich verschwinden, völlig egal, was er sonst noch geleistet und
erlebt hat. Und es wird die anderen geben, die die Kurzsichtigkeit, die
Undankbarkeit, ja die Unmenschlichkeit dieses Vorgehens anprangern. Die einen zeitgeistigen Rigorismus in Migrationsfragen beklagen.

Der Somalier Ahmed O. muss Deutschland verlassen. Er ist einer von zwei Passanten, die nach dem Messerangriff von Aschaffenburg am 22. Januar den Täter konfrontierten, einen psychisch kranken Afghanen, O. verfolgte ihn auch. An jenem Tag starben ein zweijähriges Kind und ein 41-jähriger Mann, drei weitere Menschen wurden
schwer verletzt. Friedrich Merz nahm die Tat zum Anlass, einen Antrag zur Migration mit den Stimmen der AfD durchs Parlament zu bringen. 

Später dankte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder Ahmed O. für seine Hilfe, er erhielt eine Christophorus-Medaille des Freistaats. Doch nun kommt die Meldung von seiner geplanten Abschiebung auf der Basis von Berichten der
und des Bayerischen Rundfunks. Zuvor soll ihm, auch als Anerkennung für seine Zivilcourage, die Chance eröffnet worden sein, sich eine Beschäftigung oder Ausbildung zu suchen – die O. aber bis hierhin nicht nutzte. Vielmehr habe er, so berichtet es der BR, laut bayerischem Innenministerium keine Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme und darüber hinaus „problematische Verhaltensweisen“ gezeigt und sich in der ihm zugewiesenen Unterkunft sehr aggressiv verhalten. Nun soll er nach Italien, wo er als Flüchtling anerkannt wurde – anders als in Deutschland, wo er nur einen Duldungsstatus hatte. 

Es ist der perfekte Anlass, sich kurz vor Weihnachten in Grundpositionen zu begeben und sich gegenseitig mit Abers zu bewerfen: Aber der Rechtsstaat … Aber O.’s geistesgegenwärtiger, selbstloser Einsatz … Aber seine „Gewalt gegen Mobiliar“ (Bayerischer Rundfunk) … Aber sein mögliches Trauma … Aber sein Aufenthaltstitel in Italien … Aber das Dublin-Abkommen, das eh nur noch lachhaft ist … Aber er arbeitet nicht, obwohl er arbeiten dürfte …

Insofern ist es zwar in vielerlei
Hinsicht noch zu früh, den Fall Ahmed O. neu zu bewerten. Neu bewerten kann man
aber eventuell schon, dass O. überhaupt bewertet wurde – als der „gute“
Ausreisepflichtige, den man bei jenem schrecklichen Attentat weiß Gott nicht
missen will und den man daher mit guten Worten und einem Verdienstorden behängte
für seine heroische Tat. Und den man auf diesem Weg auch nutzte, um
politisch einen Punkt zu machen, der aber gar kein politischer Punkt ist, sondern eine Person.

Dabei ist es eigentlich so
einfach: Egal ob man ganz eng Recht durchsetzen will
oder als Gesellschaft einer reichen Industrienation moralisch mehr auf sich
hält, sind Heldentaten ein denkbar schlechtes Argument in Migrations- und
Asyldebatten. Denn wo Wohlverhalten – hier in seiner glänzendsten Form – zum
Kriterium wird, geschieht Abwertung ganz automatisch. Die einen, auch hier
Geborene, müssen sich permanent und zuletzt wieder verstärkt beweisen. Die anderen heben und senken den Daumen.

Entscheidungen nach Regeln sind in Ordnung, zumindest solange die Regeln in Ordnung sind – genau wie deren Überprüfbarkeit durch übergeordnete Behörden und durch Gerichte. Aber dass das Publikum der Mehrheitsgesellschaft Noten vergibt – sehr gut? Bloß gut? Mangelhaft?! – so kann Integration nicht funktionieren. So funktioniert sie auch immer schlechter, selbst für die und mit denen, die
eigentlich schon ganz dazugehörten
. Verlieren tun dabei alle. 

Migration teilt sich nicht in pflegeleicht oder irre, in hochwillkommene Arbeitskräfte auf der einen oder Gefährder auf der anderen Seite. Dafür steht die noch lange nicht auserzählte Geschichte von Ahmed O.: wie falsch es überhaupt ist, als Gesellschaft Menschen in dieser Weise bewerten zu wollen. Wenn
wenigstens das am Ende deutlich wird, dann wäre für die Migrationsdebatte vielleicht doch etwas gewonnen. 

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