Vor ungefähr einem halben Jahr musste ich mir eine lang
verdrängte, unschöne Wahrheit eingestehen: Ich kann es mir nicht mehr leisten,
bei Bio Company einzukaufen. Die geballte Ladung von Inflation, erhöhten
Lebenshaltungskosten aufgrund einer Trennung und ein sinkendes Einkommen, weil
ich mich eher mit Bücherschreiben als mit Brotjobs beschäftigte, hatte schon
länger zu chronischen Miesen auf meinem Konto geführt. Immer wieder lieh ich
mir Geld, um über die Runden zu kommen, ließ mich einladen, erklärte meinem
Sohn, dass eine Taschengelderhöhung auch dieses Jahr nicht drin sei.
Trotzdem ging ich weiter fröhlich bei Bio Company einkaufen, weil ich das schon seit Jahren tat, seit eine Filiale direkt bei mir
gegenüber eröffnet hat. Davor habe ich bei Rewe und einem Bioladenkollektiv ein
paar Straßen weiter eingekauft. Aber nicht bei Lidl um die Ecke, weil Lidl für
mich böse war: Ich hatte das 2004 erschienene einmal in der
Hand gehabt, in dem es um schlechte Arbeitsbedingungen ging, auch erschienen in
regelmäßigen Abständen Berichte in den Medien über die üble Umweltbilanz von Discountern und
eine zweifelhafte Zusammenarbeit mit der Landwirtschaft. Und bei
den Preisen könne die Qualität der Produkte auch nicht besonders sein, glaubte
ich. Also kaufte ich mir mit meinem Dispo bei Bio Company Hähnchenbrust für
37,90 Euro das Kilo und Gruyère für 45,90 Euro das Kilo. Bis ich im Frühjahr
plötzlich eingeholt wurde von der schmerzlichen Tatsache, dass mir die
moralische Überlegenheit und das Einkaufen als komfortables Shopping-Erlebnis
einfach zu teuer geworden waren. Zeit, mein Leben zu verändern. Zeit für Lidl.
Dass es sich bei einem Besuch bei Bio Company tatsächlich um ein komfortables
Shopping-Erlebnis handelte, entdeckte ich aber erst nach der vollzogenen
Veränderung. Natürlich hatte ich davor schon einen Discounter von innen
gesehen. Aber das erste Mal, dass ich Lidl mit dem Bewusstsein betrat, dass das
jetzt mein Supermarkt war, empfand ich so etwas wie Heimweh nach einem Ort, den
ich vorher nicht bewusst geschätzt hatte. Beim Schieben eines vom Umfang her an
einen SUV erinnernden Einkaufswagens durch die Gänge von Lidl spürte ich, was
ich verloren hatte: das Umworbenwerden von einer Wohlfühl-Produktwelt, eine
Warenauslage, die mich verführen will, lächelndes Personal, ästhetisch
ansprechende Verpackungen, baumgereifte, handverlesene Datteln am Zweig.
Diese ersten Wochen habe ich getrauert. Einkaufen machte
keinen Spaß mehr. Einkaufen war nicht mehr die Erfüllung von Begehrlichkeiten,
sondern die Befriedigung von Bedürfnissen. Bei Bio Company, wurde mir im
Rückblick klar, hatte ich Gefühle eingekauft: das Gefühl, dass die Welt in
Ordnung ist, dass ich ein guter Mensch bin, dass es beim Essen vor allem um
Genuss geht.
Bei Lidl kaufe ich Nahrungsmittel ein, Hähnchenbrust (Bio)
für 24,99 Euro das Kilo, Gruyère gibt es nicht in meiner Filiale, der nobelste
Käse momentan ist ein nicht näher definierter Hartkäse für 24,89 Euro das Kilo
(eine Käsetheke gibt es nicht, versteht sich). Statt „Natürliche Abwehr:
Ayurvedische Kräuterteemischung mit Echinacea, Acerola-Kirsche, Holunderbeere“ – Ingwertee. Statt Blütenhonig,
500 Gramm für 8,79 Euro – Blütenhonig, 500 Gramm für 2,79 Euro. 2,79 Euro? Wow!
Das erste Mal, dass beim Anblick eines Preisschildes Freude
in mir aufkam, brachte die nächste Entdeckung mit sich: die meines inneren
Sparfuchses. Preisen hatte ich bisher nie sonderlich viel Aufmerksamkeit
geschenkt, ich habe meinen Einkaufszettel abgearbeitet, und die Dinge kosteten
eben, was sie kosteten. An der Kasse habe ich manchmal kurz geschluckt, aber
dann schnell wieder verdrängt. Bei Lidl fing ich an, auf Preise zu achten,
deswegen war ich ja da. Und ich merkte, dass es hier auch ein Gefühl zu kaufen
gab, nämlich die Lust am Schnäppchen. Ich studierte die Preisschilder beim
Tomatensortiment und griff nach den günstigsten und farblosesten. So kannte ich
mich gar nicht.
Im Discounter ist es divers
Das Klientel bei Lidl unterscheidet sich von dem bei Bio
Company in der Quantität – bei Lidl ist immer mehr los – und in der
sozioökonomischen Diversität, sofern man die Schichtzugehörigkeit an
Äußerlichkeiten ablesen kann. Bei Bio Company hätte ich wohl zu jeder Zeit alle
in dem Moment Einkaufenden zu einer spontanen Party zusammenrufen können, und alle hätten sich ganz gut verstanden. Sie hätten Deutsch und Englisch
miteinander geredet, die Kinder wären ähnlich angezogen gewesen, gemeinsame
Themen hätten auf der Hand gelegen: wie sich der Kiez verändert; Berufliches,
denn alle hätten Berufe oder Berufungen; Schulen für die Leute mit Kindern und
Reisen für die ohne. Würde man jetzt bei Lidl das gleiche Experiment
durchführen, sähe die Party anders aus. Vermutlich nicht ganz so harmonisch: Es
gäbe weit mehr Sprachen und wahrscheinlich keine, auf die sich alle einigen
könnten; die Altersspanne wäre größer, die Lebenswelt-Schnittmengen kleiner.
Bio Company ist für eine Schicht da oder für solche
Menschen, die zu ihr gehören wollen. Lidl ist für alle anderen da. Geeint sind die Kund:innen bei Lidl nur dadurch, dass sie auf den Wohlfühlfaktor bei Bio Company verzichten,
weil sie ihn sich nicht leisten können oder wollen. Nicht wenige von ihnen
könnten sich Bio Company vermutlich sehr wohl leisten, geben ihr Geld aber
lieber für anderes aus, zum Beispiel für Autos, die sie auf dem Lidl-Parkplatz
parken. Bei meiner Bio-Company-Filiale gab es nur Fahrradständer.