Raus aus dem Freund-Feind-Schema

70.000 Menschen waren es laut Medienberichten erst vor einer Woche in Amsterdam. In London gingen schon 300.000 auf die Straße, auch New York und andere Metropolen kennen Großdemos gegen den Gazakrieg – aber Deutschland nicht. Hier ist die öffentliche Solidarität mit den Palästinensern vergleichsweise verhalten. Obwohl mehr als 80 Prozent der deutschen Bevölkerung Israels Kriegsführung nicht unterstützen und 59 Prozent ein negatives Bild von der israelischen Regierung haben.

Man kann auch diese Zurückhaltung vielleicht mit einer falsch verstandenen deutschen Staatsräson erklären: Als würde das Bekenntnis zum Existenzrecht und zur Sicherheit Israels zugleich die offene Kritik an der extremen israelischen Regierung und ihrem militärischen Vorgehen tabuisieren.  

Vielleicht aber bleiben die allermeisten 80 Prozent auch aus einem anderen Grund zu Hause. Vielleicht will sich gerade in Deutschland eine Mehrheit schlicht nicht gemein machen mit einer Protestbewegung, der es weniger um den Schutz der Palästinenser und friedliche Koexistenz geht als um die Vernichtung Israels. 

Gerade in Deutschland

Die Radikalität der propalästinensischen Wortführer schadet der Unterstützung für die palästinensischen Opfer dieses Krieges. Es wäre höchste Zeit für eine andere, für eine breitere und zivilere Solidaritätsbewegung mit den Opfern auf beiden Seiten, gerade in Deutschland.  

“ – mit “ ist die Hamas gemeint. „“ „Zionisten sind Faschisten.“ „“ „Zios töten.“ „“ – Das sind einige der terrorverharmlosenden Slogans, die zwar nicht von allen Unterstützern der Protestbewegung mitgetragen, aber von den meisten toleriert werden. Die als Schriftzüge an Universitätstoiletten, Wänden und Litfaßsäulen auftauchen, massenhaft im Internet geteilt und auf Demonstrationen gerufen werden. Die eine bestimmte Gruppe als Feind markieren und andere unter Druck setzen, es ihnen gleichzutun.  

„“ stand auch über dem Foto des vor einer Woche in Washington ermordeten Deutsch-Israelis Yaron Lischinsky, auf einem Poster in der Nähe der Humboldt-Universität in Berlin.  Über seinem Kopf war zudem ein rotes Dreieck abgebildet – ein Symbol, das die Hamas zur Feindmarkierung verwendet und auf das sich auch Teile der propalästinensischen Bewegung positiv beziehen. Unter im Internet geteilten Fotos von Lischinsky und seiner ebenfalls ermordeten Freundin Sarah Milgrim: Tausende Kommentare, die ihren Tod und den Täter feiern, antisemitische Beleidigungen, dazu ein Emoji-Meer aus blutroten Hamas-Dreiecken.

Viele der Kommentierenden fühlen sich zugleich einer linken bis linksradikalen Bewegung zugehörig, sie haben rote Fahnen oder Hammer-und-Sichel-Zeichen im Profil. Auch Elias Rodriguez, der Lischinsky und Milgrim mit 21 Schüssen hinrichtete, verstand sich als Linker. Er war Aktivist der Black Lives Matter Bewegung und ehemaliges Mitglied der Partei für Sozialismus und Befreiung (PSL), die den Terror der Hamas wiederholt als Widerstand bezeichnete. In seinem Manifest schrieb Rodriguez: „Ich bin froh, dass es heute wenigstens viele Amerikaner gibt, für die eine solche Aktion nachvollziehbar und auf eine seltsame Art und Weise das einzig Vernünftige ist, was man tun kann.“ Bei seiner Verhaftung rief er „Free Palestine“.

So wird diese Gewalt zur notwendigen Gegengewalt verklärt, als gerechte Notwehr angesichts der menschengemachten Katastrophe in Gaza, als Ausweg aus der gefühlten Ohnmacht. Gegner werden als Zionisten und damit als Täter gebrandmarkt, die deshalb letztlich selbst Schuld sind an dem, was ihnen zustößt, und sei es, wie im Fall von Lischinsky und Milgrim, die eigene Ermordung.  

Hier sind die Parallelen längst offensichtlich zur alten antisemitischen Rechtfertigung, dass die Juden doch selbst mit Schuld daran seien, wenn sie gehasst werden. Dieses Muster fand schon Anwendung auf die Opfer des 7. Oktober, seitdem verbreitet es sich. 

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