Am Anfang seiner Karriere war Chris Martin der Thom Yorke der einfachen Leute. Man vergisst das heute leicht, aber zu Beginn des Jahrtausends galt nicht nur Yorkes Band Radiohead aus Oxford als cool, sondern auch Martins Londoner Gruppe Coldplay. Viele Musikfans besaßen CDs von beiden und besuchten beiderlei Konzerte. Magazine wie der britische stuften nicht nur die traurigen Lieder von Radiohead als wichtige Gegenwartsmusik ein, sondern auch die von Coldplay. 1995 sang Yorke im Song vom zweiten Radiohead-Album : „“ Sieben Jahre später hieß es bei Martin im Song vom zweiten Coldplay-Album : „“ Man hätte beide Stücke zu einer Ewigkeitsballade vereinen können.
Yorke war allerdings zuerst da und auch schneller wieder weg. Als Coldplay mit dem erwähnten Album zu den größten Popbands der Welt aufschlossen, hatten Radiohead bereits mit dem Gitarrenpop gebrochen. Elektronische Elemente und experimentelle Strukturen prägen ihre Musik seit dem Album aus dem Jahr 2000. Mit Einflüssen aus Ambient, Krautrock und Jazz machten sie ihrem Publikum das Leben auf schönstmögliche Weise schwer. Das war nicht der in einigen Kritiken zunächst beschworene Karrieresuizid, aber doch ein kontrollierter Rückzug aus der Sphäre der Stadionbands, in der sich Coldplay bis heute aufhalten. Nächstes Jahr stehen unter anderem zehn Auftritte im Londoner Wembley-Stadion auf dem Tourplan von Coldplay, alle sind bereits ausverkauft.
Was man dabei abermals leicht vergisst: Obwohl sie stets eine Band der griffigen Themen und Gefühle blieben, haben sich auch Coldplay im Laufe der Jahre vom Gitarrenpop entfernt. Sie engagierten Brian Eno als Produzent und öffneten ihre Musik mit dem Album (2008) für neue Texturen, Klanglandschaften und Produktionsmethoden. Außerdem half ihnen dabei Jon Hopkins, ein britischer Musiker, der für einen Sound zwischen Elektro und moderner Klassik bekannt ist und einem größeren Publikum durch Auftritte im Vorprogramm von Radiohead. Coldplays Erfolgsaussichten wurden dadurch jedoch nicht gedeckelt, ihre Konzerte weiterhin größer und größer. Die Band arbeitete eben nicht nur mit Eno und Hopkins, sondern auch mit dem 2018 verstorbenen EDM-Superstar Avicii und der menschlichen Hitmaschine Max Martin. Ihrer Musik hat das auf Alben wie (2014), (2015) und (2021) nicht immer so gutgetan wie ihrer Karriere.
Nun erscheinen an diesem Freitag erstmals neue Alben von Chris Martin und Thom Yorke am selben Tag, wenn auch unter unterschiedlichen Vorzeichen. Yorke bevorzugt derzeit seine als Coronaprojekt gegründete zweite Band The Smile mit dem Multiinstrumentalisten Jonny Greenwood (ebenfalls Radiohead) und dem Schlagzeuger Tom Skinner als musikalisches Vehikel: ist bereits ihre dritte Platte in weniger als zweieinhalb Jahren und zeigt eine Band, die einfach nur spielen will. Die Rhythmen sind komplexer als bei Radiohead, die Songs aber auch instinktiver zu fassen. Weder das hypnotische Momentum von Songs wie , noch die Unmittelbarkeit der Gitarrenverdrahtungen aus würde man in dieser Form bei Radiohead hören. The Smile spielen in ihrer eigenen Nische, dort haben sie es sich angemessen ungemütlich gemacht.
Coldplay hingegen bringen ihr zehntes Album heraus und sollen dafür eine Vorauszahlung über 35 Millionen britischen Pfund von ihrer Plattenfirma erhalten haben. Zum Vergleich: Für das Geld wären auch ein Regionaljet der Marke Embraer, 1.000 Dreier-BMWs oder zweieinhalb Millionen Kästen Sternburg Export drin gewesen. Stattdessen floss ein Teil des Budgets offenbar in berühmte Gäste: Nachdem sie in der Vergangenheit mit Rihanna und BTS kooperiert hatten, sind an der Vorabsingle nun der nigerianische Popstar Burna Boy und die britische Rapperin Little Simz beteiligt. Der Song klingt superperkussiv und hittig: nicht mehr nach Radiohead, sondern nach von den Pet Shop Boys und vom schwedischen One-Hit-Wonder Army of Lovers. , schmettert Martin hier mit seinen Gästen.
Die „“ spielt auch im folgenden Song eine Rolle: „“ lautet diese, weiter „“. Ein Song, den wir in den nächsten Jahren auf vielen Großereignissen hören werden. Ohnehin gilt: Zwar verknüpft kein roter Faden die einzelnen Songs von miteinander. Wohl aber schwebt ein Konzept über diesem Album: Coldplay haben sich noch weiter geöffnet, ihr Pop-Muzak umarmt jetzt endgültig alle: Mal klampft die Band akustisch herum, mal klopft sie an die Discotür (bester Song des Albums: mit Ayra Starr und Nile Rodgers an der Gitarre). Mal streut ein Background-Chor etwas Zucker, mal legt Jon Hopkins den Raum mit plüschigen Ambient-Teppichen aus, beim Titeltrack half zudem Ólafur Arnalds. Und manchmal, etwa in , erkennt man, wie sehr das Stadion in der Kompositionsarbeit bereits mitgedacht wurde.
Inhaltlich ist ebenfalls eine gewisse Simplizität auszumachen. Da reimt sich „“ auf „“ und „“ auf „“. Da scheinen Sonne und Mond über den Liebenden, wuchern die Blumen, ist der Schmerz ein Meer. All das klingt stets angenehm, aber eben auch ein bisschen egal. Coldplay wissen schon, weshalb sie das Album mit einer glänzenden Schicht Quatsch kaschieren: So sind sämtliche Songtitel in Versalien gehalten, nur der Buchstabe i wird konsequent kleingeschrieben. Zwei Ausnahmen: und ein Song, der lediglich mit dem Regenbogen-Emoji bezeichnet ist. Derlei typografische Verrenkungen erinnern nicht nur an alte Myspace-Zeiten, sondern auch an Menschen, die sich selbst für „ein bisschen crazy“ halten und deswegen eine Holzarmbanduhr tragen, ein paar gefärbte Strähnchen oder ausschließlich die Farbe Mintgrün.
Ausgestellte Originalität also. Und damit ziemlich genau das Gegenteil von dem, was The Smile ausmacht, die in Songs wie dem vergnügt hüpfenden oder dem knapp sechsminütigen Slow-Jam tatsächlich frei drehen. Wobei: Manche ihrer Songs auf dem neuen Album könnte man sich trotzdem als Coldplay-Tracks vorstellen.
etwa bestimmt eine elegische Synthiemelodie – man müsste nur das Arrangement weiter ausfüllen und die Vocals weiter nach vorne mischen, um das Stück in die bunte Welt von Martin zu verrücken. Auch vom Abschlussstück wäre ein Coldplay-Cover denkbar. Umgekehrt sähe die Sache allerdings düsterer aus: Einen Song auf , der auch für The Smile funktionieren würde, gibt es wohl nicht. Während sich Chris Martin in der Vergangenheit wertschätzend über Radiohead geäußert hat, reagierte Thom Yorke meistens wortkarg, wenn er auf Coldplay angesprochen wurde. Er besäße keines ihrer Alben, hat er einmal in einem Interview gesagt. Vielleicht spricht aus solchen Statements auch die Angst davor, dass ihm die Musik ganz gut gefallen könnte.