Putins Anschlag auf die gemeinsame Erinnerung

Das Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs zeigt die neue Teilung Europas. Gestern, am 8. Mai, gedachte Europa feierlich der Befreiung von der nationalsozialistischen Herrschaft vor 80 Jahren. Mit Frankreich, Polen, der Ukraine und den meisten Ländern in Europa und der Welt beging auch Deutschland diesen Tag der Befreiung.

Erst heute, am 9. Mai, feiert Russland nebst einigen Staaten der ehemaligen Sowjetunion seinen Tag des Sieges. Die Zeitverschiebung liegt daran, dass die Deutschen 1945 die Kapitulationsurkunde gegenüber den Sowjets so spät am Abend unterzeichneten, dass in Moskau schon der 9. Mai angebrochen war. Doch das gespaltene Gedenken in Europa liegt nicht an Zeitsprüngen, sondern am russischen Herrscher Wladimir Putin. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine zerreißt den Kontinent. Der Riss entfremdet Regierungen und Diplomaten, er zerstört die Bindungen der Zivilgesellschaften, er trennt Familien, er verhindert Begegnungen. Selbst in der Erinnerung, die alle Europäer eigentlich zusammenbringen sollte.

Das war vor Jahren noch ganz anders. Da gedachten die Europäer gemeinsam des Zweiten Weltkriegs. Putin und sein Vorgänger Boris Jelzin nahmen an Gedenkveranstaltungen in der EU teil. Veteranen trafen sich. Europäische Regierungschefs fuhren nach Moskau. Es war normal, dass in Deutschland russische, ukrainische und deutsche Diplomaten gemeinsam an den Denkmälern des Zweiten Weltkriegs standen.

Putin beschönigt den Hitler-Stalin-Pakt

Den Charakter des deutschen Auslöschungs- und Versklavungskriegs gegen Osteuropa beschreibt ebenso eindrücklich wie aufwühlend ein neues Buch des Historikers Jochen Hellbeck (Ein Krieg wie kein Anderer. Der Deutsche Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Eine Revision). Hellbeck erklärt umfassend, wie die Nationalsozialisten Kommunisten und Juden gleichsetzten und die „Vernichtung von Juden und Kommunisten in der Sowjetunion nahtlos in die anschließende Vernichtung von Juden anderswo“ überging.

Nicht darüber entzweien sich heute die Europäer und die Putin-loyalen Russen. Sondern über Putins Erbeutung des Sieges aller sowjetischen Völker von 1945 zum Zweck der Legitimierung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Hinzu kommt, dass Putin die sowjetischen Verbrechen an Polen und den Balten vor über 80 Jahren sowie den Hitler-Stalin-Pakt beschönigt, verdrängt oder negiert. Putin hat den Blick des offiziellen Russlands auf den Zweiten Weltkrieg auf die schmale Linse russischer Ultranationalisten verengt. Er benutzt den Sieg aller Sowjetvölker 1945 zur Rechtfertigung seiner Herrschaft und der geplanten Auslöschung der ukrainischen Nation. Deshalb ist es auch so schwierig geworden, zum 80. Jahrestag gemeinsam mit dem russischen Botschafter an den Denkmälern in Deutschland zu stehen.

Gemeinsame Erinnerung ist mehr als ein Kranzabwurf

Doch Putins Anschlag auf die gemeinsame Erinnerung geht noch weiter. Er hat in den vergangenen Jahren systematisch die Institutionen der gemeinsamen deutsch-russischen Erinnerung angreifen oder zerstören lassen. Putins Behörden haben die russische Geschichts- und Menschenrechtsgesellschaft Memorial verboten und aus dem Land getrieben. Sie behindern den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge bei seinem Versöhnungswerk. Sie haben die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde, den über 100 Jahre alten Dachverband von Historikern, Slawisten und Osteuropakundigen, zur extremistischen (!) Organisation erklärt. Sie haben das Deutsche Historische Institut (DHI) in Moskau, das umfassend über die Verbrechen der Deutschen in der Sowjetunion geforscht hat, zur unerwünschten (!) Organisation erklärt und die Forscher vertrieben.

Gemeinsame Erinnerung findet nicht nur zum Jahrestag per Kranzabwurf statt. Gemeinsame Erinnerung entsteht in vielen Jahren harter, gemeinsamer Forschungsarbeit, in den Archiven von Memorial oder des Deutschen Historischen Instituts, bei der Arbeit des Volksbunds und auf Konferenzen, auf denen frei gesprochen werden darf. So sind die Grundlagen einer gemeinsamen Erinnerung der Europäer seit den 1990er Jahren entstanden. Diese Grundlagen hat Wladimir Putin geplant und systematisch zerstört. Und die Europäer sollten sie wieder aufbauen, wenn Putins Zerstörungswerk endlich an sein Ende gekommen ist.

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