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Es sei, sagte der Architekt Livio Vacchini einmal, das „emotionalste Projekt“, das er je gebaut habe. Dabei musste es schnell gehen, damals im Jahr 1971.

Das Filmfestival von Locarno steckte in einer Krise und musste sich neu erfinden. Nicht mehr im Park des Grandhotels, sondern mitten in der Stadt sollten die Filme abends auf einer Open-Air-Leinwand gezeigt werden. Erst fragte man den jungen Tessiner Architekten Luigi Snozzi, doch der hatte keine Zeit. Also übernahm sein Compagnon Vacchini. Er entwarf eine Gitterkonstruktion aus Metallrohren, 22 mal 10 Meter groß. Darauf gespannt eine Kinoleinwand, die bis heute eine der größten in Europa ist. Für die Projektorenkabine legte Vacchini zwei vorgefertigte Swimmingpool-Schalen übereinander. Auf die Piazza Grande stellte er tausend Klappstühle. Readymade-Architektur im Geist der Seventies – günstig, temporär. Von Entwurf bis Festivalstart vergingen drei Monate.

Nun soll die Leinwand von Locarno ersetzt werden. Zu alt sei sie, zu instabil, heißt es von der Festivalleitung. Eine Million Franken kostet die neue Leinwand. Eine Restaurierung wurde verworfen, sie wäre viermal so teuer gewesen.

Aber Vacchini, er ist 2007 gestorben, sollte recht behalten: Keines seiner Projekte ist derart emotional wie seine Leinwand. warnen die Tessiner Architektur- und Filmfreunde in einer Online-Petition. Allen voran kämpft der heute 82-jährige Starbaumeister Mario Botta für ihren Erhalt. Die Leinwand sei nicht nur ein „repräsentatives Werk der zeitgenössischen Schweizer Architektur“, mit ihr werde das „Herz von Locarno rausgerissen“. Die Leinwand-Retter stellen Vacchinis Konstruktion in eine Reihe mit Leuchtturmprojekten der damaligen Architekturgeschichte: mit dem unverwirklichten Fu Palace von Cedric Price, den städtebaulichen Ideen der britischen Archigram-Gruppe, mit dem Pariser Centre Georges-Pompidou von Renzo Piano, Richard Rogers und Gianfranco Franchini. Die Tessiner Gruppe des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins sieht in der Verteidigung der Vacchini-Leinwand nicht weniger als „einen Akt der kulturellen Verantwortung“.

Was einst für den Moment gedacht war, muss heute für die Ewigkeit dienen. Nur lenkt dieser Kampf davon ab, dass ebendiese Botta, Vacchini, Snozzi und mit ihnen eine ganze Tessiner Architektengeneration die viel größere Schlacht bereits vor Jahrzehnten verloren haben. Als junge Männer wollten sie den Südkanton vor der Zersiedelung und dessen Städte wie Locarno vor der Verschandelung retten. Heute bleibt nicht einmal mehr eine Leinwand.

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