Ordentlich was los in Gelsenkirchen

Wenn in den ersten 15 Minuten einer Serie junge Menschen im Kinderzimmer koksen, ein Sexvideo an einer Schule geteilt wird und Dickpics unzensiert zu sehen sind, kann es eigentlich nur um gehen. Die Show mit Zendaya, Jacob Elordi und Sydney Sweeney, produziert von HBO, in Deutschland verfügbar bei Sky, gilt wegen ihrer Darstellungen von jugendlicher Liebe, Gewalt und Selbstzerstörung als größte Skandalserie der letzten Jahre – doch im Fall der hier angesprochenen 15 Minuten geht es nur in zweiter Linie um sie. Sie stammen aus , einer deutschen -Adaption, die zwar in Look und Soundtrack an das Vorbild erinnert, aber von Kalifornien nach Gelsenkirchen verlegt wurde. Wer hier groß wird, erzählt die Protagonistin Mila (gespielt von Derya Akyol), kotze mit 14 auf Wodka-O in Papas Garten.

Mila kehrt nach einem Aufenthalt in der Psychiatrie zurück an ihre Schule. Diagnose: mittelschwere depressive Episode, Panikstörung und generalisierte Angststörung. In der Klinik hat sich Mila in die mysteriöse Ali (Sira-Anna Faal) verliebt, doch zurück im Alltag wartet auch der aufstrebende Schauspieler Jannis (Eren M. Güvercin) auf sie. Bei ihm fühlt sich Mila gut, nicht zuletzt, weil er sein Ketamin mit ihr teilt. Außerdem gehören die Streberin Lilly (Renée Gerschke) und der Schönling Basti (Kosmas Schmidt) zu Milas Schuluniversum. Selbst das blonde Traumpaar hat jedoch mit Abgründen zu kämpfen, während Milas ehemals beste Freundin Chiara (Vanessa Velemir Diaz) eher unter ihren Versuchen leidet, als Reality-Star groß rauszukommen. Deren neue beste Freundin Leyla (Dilara Aylin Ziem) wiederum weiß plötzlich nicht mehr richtig, wer sie ist, und Lillys beste Freundin Sophia (Luna Jordan) will endlich Sex haben – am liebsten mit ihrer Deutschlehrerin. Es ist also ordentlich was los in Gelsenkirchen.

wurde von der Produktionsfirma Zeitsprung Pictures für RTL+ entwickelt, die Serie geht nicht nur auf das US-amerikanische zurück, sondern auch auf dessen gleichnamige israelische Vorlage aus dem Jahr 2012. Am Konzept wurde nicht gerüttelt: Eine Gruppe Jugendlicher konsumiert Drogen, hat viel Sex und schert sich dabei nicht um Eltern, Schule oder andere Autoritäten – eine toxische Mischung, die zu allerlei Gewaltausbrüchen führt. Die Teenager stammen vorwiegend aus der gehobenen Mittelschicht, vermutlich um allzu großer Tristesse entgegenzuwirken. Egal, wie apathisch die Protagonisten auch sein mögen: Für gute Outfits und Partys am türkis schimmernden Pool der Eltern reicht es dann doch noch.

In acht ungefähr einstündigen Folgen übernimmt neben der Farbpalette auch die dynamische Kameraführung seiner US-Vorlage und übertrifft diese teilweise noch. Wenn in einem besonders schockierenden Moment eine Figur direkt in die Kamera kotzt, ist das nicht mehr jene wohl kuratierte Instagram-Ästhetik, mit der einen die Serie an vielen anderen Stellen in ihre düstere Teenie-Welt hineinziehen will. Es erinnert eher an die Mittel des Reality-TV.

Eltern und Lehrer? Komplett ahnungslos

bildet jedoch nicht die Realität ab, sondern überzeichnet bewusst. Die meisten Eltern- und Lehrerfiguren der Serie sind viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um mitzukriegen, was mit der jüngeren Generation abgeht. Nach dem Suizid eines Mitschülers von Mila sind die Erwachsenen etwa „ganz geschockt, dass psychische Krankheiten auch an unserer Schule existieren“, wie die Protagonistin sagt. Solche Darstellungen komplett ahnungs- oder teilnahmsloser Mütter und Väter mögen überzogen sein, an anderer Stelle aber wendet viel Serienzeit auf, um tiefer zu schürfen als das US-amerikanische . Milas Klinikaufenthalt erkundet die Show in ausführlichen Flashbacks ebenso wie die Migrationsgeschichten einiger Figuren. Das ist kein faules Stilmittel, sondern trägt tatsächlich zum besseren Verständnis der Seriengegenwart bei.

Ästhetik und Schockeffekte stehen hier also nur selten über dem Inhalt – eine grundsätzlich löbliche Herangehensweise, durch die jedoch zeitweise auch die Intensität des US-verloren geht. Unbedingt musste man die krassesten Szenen der Serie am Tag nach der neuesten Folge mit Freundinnen und auf Social Media diskutieren – auch deshalb wurde zeitweise zur zweitgrößten HBO-Produktion, übertroffen nur noch von . Die erwähnten Darstellerinnen und Darsteller sind inzwischen Hollywoodstars und/oder kontroverse Werbefiguren; eine neue Staffel soll nach vier Jahren Pause 2026 erscheinen.

funktioniert mindestens zur Überbrückung der Wartezeit, auch wenn man sich nicht vorstellen kann, dass die Serie den Social-Media-Diskurs auf ähnliche Weise bestimmen wird wie . Derya Akyol überstrahlt die Serie mit einer ungekünstelten, streckenweise außerordentlich körperlichen Performance, zudem verleiht Dilara Aylin Ziem ihrer Nebenfigur Leyla ein leises Selbstbewusstsein, aus dem zwei große Plot-Twists entstehen. Diese tragen auch über seine schwächeren Momente hinweg. Immer wieder weisen Clips aus Nachrichtensendungen in der Serie auf Corona, Krieg und Klimawandel hin, die in allzu offensichtlicher Weise mit der kollektiven Depression des jugendlichen Serienpersonals in Verbindung gebracht werden. In bleibt der Wille zur Selbstauslöschung mysteriöser – und wirkt deshalb umso ungeheuerlicher.

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