Als ich Maryam Würz im Gazastreifen erreiche, hat sie Todesangst. „Wir sterben jeden Tag, sogar in der Nacht“, sagt sie. Sie bete, den nächsten Tag zu erleben. Jeden Tag.
In jenem Moment, 26 Tage nach dem 7. Oktober 2023, sitzt die 24-jährige Würz mit ihrem zehnjährigen Halbbruder und rund 20 weiteren Menschen in einem Zimmer in Gaza-Stadt. Es fehlt Wasser, es fehlt Essen, und Strom gebe es auch nicht, so erzählt sie es. Der Gazastreifen sei ein Ort, an dem man sich schnell an Krieg gewöhne. Denn es herrscht oft Krieg. Aber so schlimm wie im Herbst 2023 sei es noch nie gewesen.
Es sind die Tage, in denen das israelische Militär begonnen hat, Gaza-Stadt vom Boden und aus der Luft zu kontrollieren. Die Hamas schlägt zurück, sie ist stark in ihrer Hauptstadt. Wer sich im Gazastreifen aufhält und einen anderen Pass besitzt, darf jetzt das Land verlassen. Am 2. November 2023 fliehen so 400 Menschen über den Grenzübergang nahe der südlich gelegenen Stadt Rafah nach Ägypten. Auch Würz hätte längst an dieser Grenze stehen sollen. Sie hat einen deutschen Pass, wurde als Tochter einer Deutschen in Berlin geboren und ist bei ihrem palästinensischen Vater im Gazastreifen aufgewachsen. Sie könnte nach Deutschland, aber sie traut sich nicht. Es wird noch ein paar Tage dauern, dann flieht sie doch.
Maryam Würz ist eine von 452 deutschen Staatsangehörigen, die nach dem 7. Oktober den Gazastreifen verlassen haben. Sie lebte in Gaza-Stadt, nun ist sie in Berlin. Eine Frau mit den Gedanken zwischen dem Exil und einer Heimat, von der sie nicht weiß, was von ihr übrig bleiben wird. Sie sieht die Zerstörung, den Hunger und den Tod im Gazastreifen nur noch auf Videos, sie erlebt das nicht mehr selbst. Seit sie in Deutschland ist, fragt Würz sich seltener, wann endlich Frieden werden kann. Und häufiger, ob ihre Freundinnen die nächsten Tage überleben. Ob sie selbst jemals zurückkehren kann in den Gazastreifen.
Die ZEIT hat 2023 mehrfach mit Würz telefoniert und sie jetzt in Deutschland getroffen. Weil es schwierig ist, Informationen aus dem Gazastreifen zu bekommen, lassen sich nicht alle Erzählungen überprüfen.
Im Oktober 2023 bleibt Würz‘ Familie auch nach der Aufforderung des israelischen Militärs, den nördlichen Gazastreifen zu verlassen, in der Hauptstadt. Wie viele Palästinenser zieht sie die gefährlichen, aber bekannten Häuser und Straßen einem überfüllten Flüchtlingscamp im Süden vor. Doch schon am 2. November, nach Beginn der Bodenoffensive, sagt Maryam Würz: „Wir sind hier wie in einem Gefängnis.“
Zwischen Gaza-Stadt und dem Grenzübergang liegt die rund 40 Kilometer lange Hauptstraße Salah al-Din. Eine Strecke, die eine junge Frau in einem Tagesmarsch gerade so noch zu Fuß gehen könnte. Zwar öffnet das israelische Militär die Straße 2023 stundenweise, damit Menschen aus dem Norden in den Süden fliehen können, aber Maryam Würz hört von Schüssen, von Toten. Sie hat Angst, die Salah al-Din nicht zu überleben.
Während sie in Gaza-Stadt festsitzt, ruft ihre Mutter von Deutschland aus die deutsche Botschaft in Ramallah und in Kairo an. Sie schreibt Journalisten, auch der ZEIT.
In den Schreiben der Botschaften an die Deutschen in Gaza steht: „Die humanitäre Situation sowie die Sicherheitslage für Zivilistinnen und Zivilisten verschlechtert sich weiter massiv. (…) Eine Lagebewertung Ihrer Umstände können wir jedoch für Sie nicht vornehmen.“
Am 5. November schickt das Auswärtige Amt eine neue E-Mail. Sie beginnt mit „Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Landsleute“. Es folgen Uhrzeiten, Zeiträume, ein dringender Appell an die Eigenverantwortlichkeit, eine bürokratisch verklausulierte Variante von: wenn, dann jetzt.
Und Maryam Würz fasst einen Entschluss. Sie läuft zusammen mit ihrem Bruder und ihrer Stiefmutter über die Salah al-Din, bis sie einen Fahrer finden, der sie für viel Geld zur Grenze bringt.
Am 12. November 2023 klingt ihre Stimme am Telefon fester, nicht mehr panisch. Seit wenigen Tagen wohnt sie bei ihrer Mutter in Baden-Württemberg. Sie kam zusammen mit der Stiefmutter und dem kleinen Bruder erst nach Ägypten, flog dann weiter nach Deutschland, wo auch ihr palästinensischer Vater schon wartete. Um als Ingenieur für eine Weile in Deutschland zu arbeiten, wie er es häufiger tut, war er schon vor dem 7. Oktober im Land. Seine Frau, Würz‘ Stiefmutter, und der kleine Sohn durften ihm nachreisen.
Würz erzählt, als könne sie es selbst kaum glauben, wie sie auf der Flucht ihren deutschen Pass hochgehalten habe und andere Menschen weiße Tücher. Dass sie Körperteile toter Menschen auf der Straße gesehen habe. Dass es knapp war an der Grenze, ihr Name stand für den Tag wohl nicht auf der Liste des Auswärtigen Amtes. Dass sie dann verhandelt hat, geweint und geschrien. Wie sie ihre Mutter in Ägypten in die Arme schloss. „Immer, wenn ich mich daran erinnere, fühlt es sich an wie ein Film.“
Fast zwei Jahre später laufen Würz und ich in Berlin-Neukölln durch den Park Hasenheide. Hier war sie noch nie. Maryam Würz ist jetzt 26 Jahre alt. Sie trägt eine helle Jeans, kombiniert zu einem blauen Hemd. Das Kopftuch farblich perfekt abgestimmt. „Ich bin auch eine Berlinerin“, sagt sie auf Deutsch und lacht – immerhin wurde sie in Berlin geboren. Und es klingt so, als würde sie diesen Gedanken anprobieren wie eine neue Jacke, von der man noch nicht weiß, ob sie einem steht.
Überhaupt, Deutschland. Würz sagt, sie merke, dass die Menschen in Deutschland mit sich kämpfen würden, wenn es um den Gazastreifen gehe. Wegen der deutschen Geschichte. Sie ist Apothekerin und eine sachliche Person. Sie politisiert ihre Haltung zu Israel und Palästina kaum, sodass es, weil am Krieg in Gaza eigentlich alles politisch ist, seltsam unaufgeregt klingt. Zur Hamas im Gazastreifen sagt sie so wenig, wie sie über die israelische Regierung sagt. Aber sie hat eine Meinung. Erstens: Der Krieg muss enden, unbedingt. Zweitens: Es gibt Israel, aber es gibt auch Palästina. Und Israel habe kein Recht, sich noch mehr von Palästina zu nehmen. „Sie haben doch schon alles.“ Natürlich sei es gut, dass mehr Staaten Palästina anerkennen, so wie Frankreich. Aber darauf müsse auch etwas folgen. „Man kann nicht sagen, es gibt Israel und es gibt Palästina, und ich lasse die Leute in Palästina trotzdem sterben.“
Zwei Gazastreifen
Für Menschen wie Maryam Würz existieren zwei Gazastreifen. Der Gazastreifen mit der Hamas, aus dem man auch vor dem 7. Oktober kaum ausreisen durfte, in dem Strom und Wasser, überhaupt das ganze Leben, immer schon unsicher waren. Und der zweite Gazastreifen, in dem man trotz aller Umstände einen Alltag hat, im Mittelmeer schwimmt und danach Schawarma mit Pommes isst, in dem man aufwächst und bleibt. Würz hat in Gaza-Stadt studiert und kurz vor dem 7. Oktober begonnen, als Apothekerin zu arbeiten. Teile ihrer Familie und ihre Freundinnen leben noch dort.
In Deutschland kann sie noch nicht arbeiten, obwohl sie das gern würde. Es fehlen Beglaubigungen, die sie aus Gaza kaum beschaffen kann. Es fehlt die Fachsprache, und Würz sagt, wenn es um die Gesundheit geht, habe jeder Patient ein Recht darauf, dass die sitze. Alles noch mal von vorn, bis zur deutschen Approbation. Sie verbringt viel Zeit in ihrer Wohnung am Stadtrand, paukt die deutschen Begriffe für alles, was sie auf Englisch gelernt hat, besucht einen Deutschkurs. Ihr Deutsch sei nicht gut genug, sagt Würz. Dabei spricht sie stundenlang nahezu perfekt.
Wir sitzen in der Hasenschänke, einem kleinen Biergarten. Immer wieder fliegen uns Wespen in die Limonade. Würz will sie retten. Ich will nicht, dass sie uns stechen. Als die Limonaden leer sind, bestelle ich Wasser.
