Der polnische Roman erzählt von einem starken Mann ohne besondere Fähigkeiten, Bildung oder Talent, der es binnen weniger Monate von einem völligen Niemand zum Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten bringt. Das Buch erschien 1932, ein Klassiker. Wer es liest, begreift mit wachsendem Unbehagen, dass der Aufstieg des skrupellosen Opportunisten Nikodemus D. nur möglich ist, weil die Menschen um ihn herum noch schlimmer sind.
Die Laufbahn des Wahlgewinners Karol Nawrocki ist jener des fiktionalen Nikodemus D. überraschend ähnlich: Am Sonntag hat er den liberalen Bürgermeister Warschaus, Rafał Trzaskowski, in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen besiegt und ist damit zum Präsidenten Polens gewählt. Richtig: In nur sechs Monaten gelang es einem parteilosen, kaum bekannten Politiker, gefördert von der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) als sogenannter Bürgerkandidat, einen weithin respektierten, gebildeten und beliebten Rivalen zu besiegen. Trzaskowskis öffentliches Ansehen ist nahezu makellos. Nawrocki hingegen werden Verbindungen in kriminelle Kreise vorgeworfen, Zuhälterei und dubiose Immobiliengeschäfte – er soll sich die Wohnung eines Rentners angeeignet haben.
Nawrocki gewinnt, wie konnte das passieren?
Dass Trzaskowski kein stärkeres Ergebnis erzielen konnte, liegt vor allem an den liberalen Wählern, die von Ministerpräsident Donald Tusk enttäuscht sind. Trotz Tusks großem Wahlversprechen von 2023, nämlich Populisten zur Rechenschaft zu ziehen, wurde in den vergangenen 18 Monaten nicht eine einzige Person verurteilt. Trotz Tusks Versprechen, die Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen, hat es nur eine Handvoll Gesetze aus dem Parlament auf den Schreibtisch des Präsidenten Polens, Andrzej Duda, einem der PiS-Partei nahestehendem Politiker, geschafft.
Gar entstand der Eindruck, als diene das präsidentielle Veto als Ausrede für das Ausbleiben von Maßnahmen. Trotz der Zusicherung, die in Polen so gut wie verbotenen Abtreibungen wieder zu legalisieren, konnte sich die Regierungskoalition nicht auf einen gemeinsamen Vorschlag einigen, geschweige denn ein Gesetz verabschieden. Fast alles ist beim Alten geblieben.
Wie so oft in der polnischen Politik wurde die Präsidentschaftswahl vom Wochenende deshalb zu einem Referendum gegen etwas, anstatt für etwas: gegen das liberale Polen.
Trzaskowskis Wahlkampfteam hat seinen Kandidaten dennoch immer weiter nach rechts gesteuert. Und dabei vergessen, dass das eigentlich jemand ist, der auf LGBT-Demos mitgelaufen war, sich für Menschenrechte eingesetzt und Geflüchtete unterstützt hatte: ein Liberaler. Als Trzaskowski dann sogar versuchte, während einer laufenden TV-Debatte eine Regenbogenflagge zu verstecken und mit Kritik an den Ukrainern in Polen punkten wollte, empfanden das viele seiner Stammwähler als Verrat. So verlor Trzaskowski die Stimmen derjenigen, die ihn sonst sicher gewählt hätten – und Nawrocki sicherte sich Mehrheiten.
Auch zeigt Nawrockis Sieg, dass wir in einer neuen Demokratie leben. In der alten Demokratie zählte das Radio, das Fernsehen, Parteien – und Medien, die als Gatekeeper die Themen setzten. Heute können Politiker im Internet sowohl Entertainer als auch Staatsmann sein, zu ihren eigenen Konditionen.
So gelang es dem Vorsitzenden und Präsidentschaftskandidaten der rechtsextremen Konfederacja, Sławomir Mentzen, seinen liberalen Kontrahenten Rafał Trzaskowski in eine Kneipe einzuladen. Trzaskowski kam, begleitet von Kameras: Über zehn Millionen Mal wurde das Video angesehen. Den Coup landete trotzdem Mentzen, der das Treffen initiiert hatte: Dass in der Stichwahl so viele seiner Stimmen an Mentzens Wunschkandidaten Nawrocki gingen, etwa 15 Prozent, ist kein Zufall, sondern die Logik der neuen, digitalen Demokratie.
Was passiert, wenn Nawrocki Präsident ist?
Verglichen mit dem eher passiven Vorgänger Andrzej Duda wirkt Karol Nawrocki tatkräftig und entschlossen. Zwar schränkt die polnische Verfassung die Macht des Präsidenten ein, doch er kann sein Veto gegen Gesetze einlegen und sich beispielsweise weigern, den jährlichen Haushalt zu verabschieden – und damit die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen herbeiführen. Dieses Szenario dürfte um den Jahreswechsel zu erwarten sein.
Zweitens: die polnisch-deutschen Beziehungen. Die gerade wieder stabilisierte Freundschaft zwischen Warschau und Berlin, zwischen Friedrich Merz und Donald Tusk, könnte schnell wieder in ideologische Feindseligkeit umschlagen. Im Wahlkampf hat Nawrocki öfter geschworen, „ab Tag eins“ Reparationen von Deutschland zu fordern, für den Zweiten Weltkrieg.
Drittens: die Ukraine. In den Präsidentschaftsdebatten hat sich Nawrocki offen gegen einen Beitritt der Ukraine zur EU und Nato ausgesprochen. Wir stehen wahrscheinlich vor einer längeren Periode der Uneinigkeit über Polens Ostpolitik, die von populistischem Krawall und verstärkter Polarisierung geprägt sein wird.
Viertens: Europa. Polens proeuropäische Außenpolitik könnte jetzt ins Wanken kommen. Während Ministerpräsident Donald Tusk sich wahrscheinlich weiterhin mit Personen wie Keir Starmer, Friedrich Merz und Emmanuel Macron treffen wird, unterstreicht Nawrockis Sieg die polnische MAGA-Agenda. Und der designierte Präsident wird mit einiger Sicherheit mehr wollen als nur ein Foto mit Donald Trump im Oval Office. Er wird seine Nähe suchen.
Praktisch also bedeutet Nawrockis Sieg eine Abkehr vom Ideal der Rechtsstaatlichkeit und von den hohen Standards der liberalen Demokratie. Ein großer Erfolg für den PiS-Chef Jarosław Kaczyński. Wenn er schon selbst keine PiS-Regierung zustande bringt, kann er zumindest die Regierung Tusk wirksam blockieren. Die Ära PiS endet also nicht, sie geht immer weiter.
Die Krise der liberalen Nachkriegsdemokratien und der Aufschwung des Nationalpopulismus, nicht nur in Polen, werden andauern. Diese Wahl in Polen ist nur eine Zwischenstation. Im Kampf gegen den Nationalpopulismus wird es aber nicht darum gehen, Populisten aus dem Amt zu entfernen und die alte Ordnung wiederherzustellen. Es wird darum gehen, die Demokratie als solche zu retten – und an ein neues Zeitalter anzupassen. Nawrockis Sieg ist auf diesem Weg ein Rückschlag, aber nicht das Ende.