Afrika? Was hat die italienische Literatur ausgerechnet dort zu suchen? Vom erbarmungslosen Licht und der gleißenden Sonne ist die Rede, von endlosen Landschaften und dem heißen Windhauch, von Forschungsreisenden, brutalen Soldaten und Eroberungsfeldzügen. Postkolonialismus made in Italy, so wirkt es auf den ersten Blick. Die römische Autorin Igiaba Scego legt mit ein Memoir vor, in dem sie der Geschichte ihrer somalischen Familie zwischen der Kolonialzeit und den Kriegen der Gegenwart nachgeht. Die Tochter eines ehemaligen Ministers, der unter dem Diktator Siad Barre in Ungnade fiel, will dem „Jirro“ auf die Spur kommen, dem Schmerz, der in jedem ihrer Angehörigen wütet. Dafür wählt sie die Form des Zwiegesprächs. In einem langen Brief wendet sie sich an ihre längst in Kanada beheimatete Nichte Soraya. Ihr schildert sie die Geschicke der unzähligen Verwandten, die politischen Verwicklungen in Somalia, den Alltag in der Diaspora, die Anpassungsschwierigkeiten ihrer Eltern und das unbändige Heimweh. Ausgerechnet 1990 kehrte ihre „Hoyoo“, die Mutter, nach Mogadischu zurück, ließ ihre damals heranwachsende Tochter samt Mann allein in Rom zurück. Zwei Jahre lang wurde sie vom Krieg verschluckt.
Scego ist die bekannteste afroitalienische Schriftstellerin, und ihr Wissen um die Lage auf dem anderen Kontinent verleiht der zeitgenössischen Literatur neue Vitalität und politische Relevanz. Damit setzt sie auch der popkulturellen und stilistischen Verflachung etwas entgegen, die von Kritikern wie Gianluigi Simonetti, Emanuele Zinato oder Raffaele Donnarumma schon vor Jahren analysiert wurde, lange bevor der Germanist Moritz Baßler bei uns den von Umberto Eco geprägten Begriff des also der eher liegestuhltauglichen Literatur populär machte. changiert zwischen Essay und Roman. Dass man die Grausamkeiten überhaupt aushält, liegt an der zupackenden Erzählweise und den komischen Genrebildern aus Scegos Alltag. Italien und Italienisch sind für die Erzählerin, die unter Klarnamen auftritt, ohnehin die Rettung. Soraya solle Italienisch lernen, die Sprache der einstigen Kolonisatoren, die „uns trotz ihrer Widersprüche vollständig macht“, eine „mediterrane Sprache der Überschneidungen“. Nur so könne eine Rekonstruktion des Familiengedächtnisses gelingen. Bei allen Abgründen gelingt Scego ein vor Zukunftswillen strotzendes Buch. Und en passant beleuchtet sie die komplexen Beziehungen zwischen Italien und Somalia – wer weiß schon, dass ausgerechnet der einstigen Kolonialmacht zwischen 1950 und 1960 die Aufgabe zukam, Somalia in eine Demokratie zu überführen? So lautete die Auflage der Vereinten Nationen für den Schritt in die Unabhängigkeit.
erschien in Italien im vergangenen Jahr. Erzwingt die erste postfaschistische Regierung und ihr Umgang mit Migration einen kritischeren Blick auf die italienische Geschichte? Aus deutscher Perspektive könnte es so wirken. Tatsächlich aber begann die Auseinandersetzung schon viel früher. Einer der ersten, jüngeren Romane, der sich mit der italienischen Kolonialgeschichte beschäftigte, stammt von Giulia Caminito: A wie Afrika. Es handelt sich um das Debüt der mittlerweile international etablierten Autorin, das im Original 2016 erschien. Und damit ein Jahr vor Francesca Melandris scharfzüngiger Milieustudie die nicht nur das dekadente Leben der römischen Bourgeoisie während der Ära Berlusconi zum Gegenstand hatte, sondern vor allem den grausamen afrikanischen Eroberungskrieg von 1935 unter Benito Mussolini.
In Deutschland war Melandris Roman ein enormer Erfolg und nach Elena Ferrantes das meistverkaufte italienische Buch: mehr als 100.000 Exemplare allein im Erscheinungsjahr, während die Anzahl in Italien trotz anerkennender Besprechungen unter 10.000 lag. In der Geschichtswissenschaft ist der Abessinienkrieg seit Jahrzehnten Thema, aber die große Leserschaft wendet sich eher ab. Für das historisch traditionell sehr interessierte deutsche Publikum schloss sich eine Wissenslücke – dass auch andere Länder dunkle Kapitel ihrer Vergangenheit verleugneten, wirkte außerdem entlastend. Schließlich brach Melandri mit dem Klischee des gutmütigen italienischen Soldaten – und räumte mit einer folkloristischen Wahrnehmung ihres Landes auf. Nun knüpft Melandris Verlag Klaus Wagenbach, der auch Giulia Caminito im Programm hat und in diesem Herbst den besten Einblick in die italienische Gegenwart liefert, indirekt daran an und reicht Caminitos Erstling nach.
Wie faszinierend ist in Italien bis heute der Duce?
Im Mittelpunkt von steht das Mädchen Giada, das während des Zweiten Weltkriegs gemeinsam mit seinen Geschwistern bei einer feindseligen Tante in Norditalien ausharren muss, während die Mutter Adi in Afrika eine Bar betreibt und bei Besuchen wie eine Abenteurerin wirkt. Erst nach dem Krieg, als Eritrea längst britisches Mandatsgebiet ist, kann die knapp 16-jährige Giada zu ihrer Mutter nach Assab reisen, wo das Leben längst nicht so glamourös ist, wie sie es sich vorgestellt hat. Eindringlich schildert Caminito die von den Zeitläuften unberührte Gemeinschaft der Italiener, die die Kolonialzeit als zivilisatorischen Schub preist. Gräueltaten? Davon ist in Adis Bar nicht die Rede; man schlägt sich durch und arrangiert sich mit den neuen Machthabern. Dass Giada bald einen dieser nassforschen Dandys heiratet, liegt auf der Hand. Giulia Caminito entfaltet die Geschichte bewusst aus der Perspektive des naiven Mädchens: Ihre Heldin nimmt vieles wahr, hat aber nicht die intellektuellen Instrumente für eine Analyse, geschweige denn eine politische Haltung. Damit steht sie für eine ganze Generation.
Es gibt noch einen weiteren, ebenfalls 2023 in Italien veröffentlichten Roman, der um Afrika kreist: von Gianfranco Calligarich, Verfasser einer kürzlich wiederentdeckten und auch in Deutschland gefeierten melancholischen Dolce-Vita-Variation Calligarich wurde 1947 im eritreischen Asmara geboren. In greift er auf eine historische Figur zurück: den bisher kaum in Verruf geratenen Afrikaforscher Vittorio Bottego, der 1892 zu einer spektakulären Entdeckungsreise aufbrach.
Bottego, ein wahrer Afrika-Süchtiger, entdeckt die Quelle des Flusses Juba im heutigen Somalia, betritt als erster Europäer die Stadt Lugh und erkundet den Verlauf des Omo, der für die Verschiffung von geraubten Gütern dienen soll. Bei aller Abgründigkeit – der Forscher lässt aufbegehrende Somalier seiner Karawane sofort erschießen – entwickelt Bottego ein Verständnis für den Kontinent. Spannungsreich vermittelt Calligarich die verwirrenden Konfliktlinien der italienischen Kolonialpolitik, was die Migration von heute in ein ganz anderes Licht taucht. Italien führte Krieg in Afrika, und zwar auch, um sich Land für die eigenen Flüchtlinge anzueignen.
Der Krieg ist der Generalbass der Romane, die zum Gastlandauftritt in deutscher Übersetzung erscheinen. Vielleicht sagt das mehr über die Vorlieben und Interessen der deutschen Leserschaft aus als über die italienische Literaturszene. Dort werden in den vielen Zeitungsbeilagen und auf Websites wie und ganz andere Diskussionen geführt: Gerade geht es um die drohende Kannibalisierung der Literatur durch und sogenannte auf Bestellung fabrizierte Ratgeber oder Sachbücher, für die eine eigene Kategorie auf den Bestsellerlisten geschaffen wurde. Im literarischen Bereich gibt es eine thematische Tendenz, und auch dies beschäftigt die Literaturkritik: die autofiktional dominierte Auseinandersetzung mit den Eltern.
Antonio Franchini rechnet in dem mitreißenden mit seiner verhassten Mutter ab, Dario Voltolini gelingt mit ein schimmerndes Porträt seines kranken Vaters, Federica De Paolis setzt sich in mit der fatalen Weiblichkeit ihrer barbiehaften Mutter auseinander, und Emanuele Trevi schrieb im vergangenen Jahr in eine faszinierende Nahaufnahme des übermächtigen Psychoanalytiker-Vaters. Keiner dieser glänzenden Romane liegt auf Deutsch vor, ebenso wenig wie der großartige, leider nie übersetzte Michele Mari, der mit gerade mit Franchini und Trevi um den zweitwichtigsten Literaturpreis konkurriert hat, den Campiello.