Nach dem Wolfsgruß beim EM-Spiel wächst der Druck auf Nancy Faeser

Ein Schuss, ein Tor, eine umstrittene Jubelgeste – und ein diplomatisches Beben. Nach dem Eklat um den Siegtorschützen der Türkei im Fußball-EM-Achtelfinale, Merih Demiral, haben das Auswärtige Amt und das türkische Außenministerium die Botschafter des jeweils anderen Land einbestellt.

Demiral hatte beim 2:1 Sieg über Österreich am Dienstag mit den Händen den faschistischen Wolfsgruß, das Erkennungszeichen der „Grauen Wölfe“ geformt. Der Fußballverband UEFA hat Demiral mittlerweile gesperrt. Die Bundesregierung kritisierte das Verhalten des Türken scharf, die türkische Regierung wiederum warf den deutschen Vertretern Rassismus vor.

Besonders deutlich wurde Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Die SPD-Politikerin sagte: „Die Symbole türkischer Rechtsextremisten haben in unseren Stadien nichts zu suchen.“ Die Fußball-Europameisterschaft als Plattform für Rassismus zu nutzen, sei völlig inakzeptabel. Faesers klare Worte werfen eine Frage auf: Warum ging die Innenministerin bislang nicht selbst schärfer gegen die „Grauen Wölfe“ vor?

Die Grauen Wölfe, auch „Ülkücü“-Bewegung genannt, sind für Hunderte Morde in der Türkei verantwortlich. In Deutschland rechnen die Sicherheitsbehörden der rechtsextremen Bewegung mehr als 12.000 Anhänger zu.

Der Bundestag hatte im November 2020 per Beschluss die Prüfung eines Vereinsverbots gegen Organisationen der „Ülkücü“-Bewegung gefordert. Seither mauert das Bundesinnenministerium (BMI). Eine aktuelle schriftliche Anfrage der Abgeordneten Sevim Dagdelen (Bündnis Sahra Wagenknecht), die WELT vorliegt, beantwortete das BMI nur ausweichend. Man äußere sich generell nicht zu Verbotsüberlegungen, unabhängig davon, ob zu solchen Überlegungen im Einzelfall Anlass bestehe.

Ohnehin, so das BMI, handele es sich beim Verbotsverfahren nach dem Vereinsgesetz „um kein Antragsverfahren, sondern um eine Entscheidung in alleiniger Hoheit der Exekutive“. An den Beschluss aus dem November 2020 fühlt man sich also offenkundig nicht gebunden.

Forderungen nach Verbot werden lauter

Die Stimmen werden jedoch lauter, eine Verbotsprüfung voranzutreiben. Linke und CDU bekräftigten ihre Forderung in den vergangenen Tagen. Auch das Bündnis Sahra Wagenknecht beschloss einen entsprechenden Antrag, der dieser Zeitung vorliegt. Darin heißt es unter anderem: „In Deutschland haben Anhänger der ‚Grauen Wölfe‘ mehrere Morde und Mordversuche, u. a. an türkischen und kurdischen Aktivisten, Anschläge auf Vereine und Einschüchterungen von Oppositionellen sowie Kritikerinnen und Kritikern des türkischen Präsidenten Erdogan einschließlich ‚türkischstämmiger‘ Bundestagsabgeordneter, etwa bezüglich der Resolution zum Genozid an den Armeniern, zu verantworten.“ Der türkische Geheimdienst nutze die „Grauen Wölfe“ für „nachrichtendienstliche Belange“ in Deutschland. Die Bundesregierung dürfe den Prüfauftrag des Bundestags nicht weiter verschleppen.

Dagdelen kritisierte im Gespräch mit WELT: „Es ist eine unerträgliche Heuchelei von Innenministerin Faeser, betroffen zu betonen, man habe die türkischen Rechtsextremisten fest im Blick und zugleich in der Ampel seit Jahren das Verbot der islamistisch-faschistischen Grauen Wölfe samt Wolfsgruß zu verschleppen.“ Faeser, so Dagdelen weiter, solle ihrem Amtseid endlich nachkommen und Schaden von der Bevölkerung in Deutschland abwenden. „Es ist nicht erklärbar, dass es einen Auslandsrabatt für Rechtsextremisten geben soll.“

In Deutschland gelten hohe Hürden für ein Vereinsverbot. Dafür müsste etwa nachgewiesen werden, dass „Ülkücü“-Organisationen „verfassungsfeindliche Ziele in kämpferisch-aggressiver Weise verwirklichen wollen“ oder sich im Wesentlichen gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten.

Zahlreiche Hinweise auf extremistische Bestrebungen

Die Sicherheitsbehörden haben hierfür über Jahre zumindest Hinweise gesammelt. Der Bundesregierung liegen ausweislich vergangener Antworten auf Kleine Anfragen etwa Informationen zu einzelnen „Ülkücü“-Anhängern vor, die sich in der Vergangenheit öffentlich als „Soldaten Erdogans“ bezeichnet haben oder selbst die Bezeichnung der „Schattenarmee“ verwenden.

In den letzten Jahren wurden Fälle polizeibekannt, in denen insbesondere Angehörige von Minderheiten wie Kurden und Armenier über soziale Medien oder Telefonanrufe Drohungen von Personen aus dem „Ülkücü“- Spektrum erhielten. Zudem kam es in mehreren Fällen zu Gewaltdelikten – zumeist gegen Kurden.

Der Verfassungsschutz schreibt den „Grauen Wölfen“ eine Ideologie zu, die von Rassismus, Antisemitismus und einer Überhöhung des Türkentums geprägt wird. Zu den wichtigsten Organisationen in Deutschland gehören die „Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland“ (ADÜTDF) sowie der Verband ATIB.

Die ATIB klagte zuletzt gegen eine Erwähnung im Verfassungsschutzbericht – und unterlag vor dem Verwaltungsgericht Berlin. Laut dem Urteil aus dem September 2023, das WELT vorliegt, gibt es im Falle der ATIB „hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen“, die „gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind“.

Das Gericht würdigte unter anderem zahlreiche Aussagen von früheren Verbandsfunktionären, die noch immer mit der ATIB verbunden seien. Einer etwa hatte 2018 ein antisemitisches Gedicht veröffentlicht. Demnach sollten die „Tyrannen“, die Palästina besetzten, „zugrunde gerichtet“ werden. Andere Funktionäre und Ortsverbände hätten sich immer wieder positiv auf Vordenker des türkischen Rechtsextremismus berufen. „Als Teil der ‚Ülkücü‘-Bewegung erzeugt der Kläger eine desintegrative Wirkung und fördert einen türkischen Nationalismus mit rechtsextremistischen Einflüssen“, heißt es in dem Urteil. Die ATIB hat eine Berufung beantragt.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan will am Wochenende nach Berlin reisen und dem Viertelfinalspiel der Türkei beiwohnen. Türkische Fans haben im Vorfeld zum massenhaften Zeigen des Wolfsgrußes aufgerufen.

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