413.000 tote und verwundete Soldaten. Erstmals seit Kriegsbeginn hat Wolodymyr Selenskyj eine Gesamtzahl der ukrainischen Verluste genannt. Im Februar hatte der ukrainische Präsident noch von 31.000 Toten gesprochen, die Zahl der Verwundeten aber nicht nennen wollen. Nun schrieb er auf X, 43.000 Soldaten seien inzwischen getötet worden, 370.000 verletzt. Jeder Zweite von Letzteren so schwer, dass er nicht mehr ins Militär zurückkehren konnte.
Regierungsunabhängige Zählungen kommen auf fast 62.000 Tote, in westlichen Medien ist von bis zu 80.000 die Rede. Die Nato hält Gesamtverluste von bis zu 400.000 für realistisch. Für eine Armee, die nach ukrainischen Angaben 1,3 Millionen Soldaten zählt, ist das eine enorme Zahl. Die Auswirkungen zeigen sich seit Monaten täglich an der Front, wo die Ukraine nicht genug Soldaten hat, um ihre Stellungen zu halten. Und in Kämpfen – geht man von Selenskyjs höchstwahrscheinlich untertriebener Zahl aus – jede Woche im Schnitt mehr als 1.000 Männer und Frauen verliert.
Auf den Mangel an Waffen und Munition verweist die ukrainische Regierung stets selbst, sind sie doch ein Zeugnis unerfüllter westlicher Versprechen. Den Mangel an Soldaten aber machen jetzt, auf internationaler Ebene, andere zum Thema. Bereits vor Monaten teilte das ukrainische Präsidentenbüro mit, US-Diplomaten würden die Ukraine dazu drängen, das Mobilisierungsalter zu senken. Die Regierung in Kyjiw hatte es bereits im Frühjahr im Zuge der Mobilmachungsreform von 27 Jahren auf 25 reduziert, eine im internationalen Vergleich immer noch hohe Untergrenze. Die USA würden fordern, auch 18-Jährige einzuziehen, hieß es damals aus dem Präsidentenbüro.
Ende November ließen sich US-Beamte erstmals auch mit entsprechenden Äußerungen in Medien zitieren. Die Ukraine könne beim derzeitigen Rekrutierungstempo ihre Verluste nicht ausgleichen, zitierte die Nachrichtenagentur Reuters einen anonymen US-Beamten. Wenn die Regierung das aus innenpolitischen Gründen ablehne, sei das verständlich. Doch dann solle sie wenigstens mehr Anreize für die jungen Männer erwägen, um sie zum Kriegsdienst zu motivieren. So oder so, sie müssten ins Militär.
Das Thema ist der US-Regierung offenbar wichtig, vergangene Woche hob sie es erneut hervor. Diesmal nicht anonym, sondern von höchster Stelle und offiziell: Die Ukraine müsse „jüngere Menschen in den Kampf schicken“, sagte US-Außenminister Antony Blinken. „Viele von uns denken, (das) ist notwendig. Aktuell sind 18- bis 25-Jährige nicht im Kampf.“ Auch wenn es eine politisch „schwere Entscheidung“ sei, sie müsse getroffen werden. Der neue Nato-Generalsekretär Mark Rutte rief ebenfalls dazu auf, „mehr Menschen an die Front zu bewegen“, ohne allerdings eine Altersgruppe hervorzuheben.
Selenskyj, der einen solchen Schritt laut seinem Büro schon vor Monaten in Gesprächen mit US-Delegationen ablehnte, hat sich von den nun öffentlichen Aufrufen nicht von seiner Meinung abbringen lassen. „Wir dürfen den Mangel an Ausrüstung und Ausbildung nicht mit der Jugend von Soldaten kompensieren“, schrieb er am Montag auf X. Die Priorität solle dabei liegen, „Russlands militärisches Potenzial zu senken und nicht das Mobilisierungsalter der Ukraine“. Und weiter: „Das Ziel sollte sein, so viele Leben wie möglich zu erhalten“ und nicht die Waffen im Lager. Viel kategorischer wird selbst Selenskyj, der für klare Worte bekannt ist, selten.
Die Mobilmachungsreform vom Frühjahr wurde von der ukrainischen Regierung über viele Kriegsmonate verschleppt, mutmaßlich aus Furcht vor Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Für eine Mobilmachung der Jugend, um deren Zukunft derzeit eine Elterngeneration kämpft – der durchschnittliche ukrainische Soldat ist Mitte vierzig –, würde das umso mehr gelten. Doch nicht nur die Erwartung sinkender Umfragewerte dürfte Selenskyjs Ablehnung begründen. Sondern auch, wie ein Blick auf die ukrainische Demografie zeigt: Logik.
In den Diskussionen über das Wehralter hat die ukrainische Plattform bereits im Frühjahr die verfügbaren Daten zusammengetragen, die Einblick in die personelle Ressourcensituation der Ukraine geben. Demnach lebten in dem Land vor dem Krieg knapp 10,5 Millionen Männer im Alter von 18 bis 59 Jahren.
Zieht man davon die Männer ab, die bereits beim Militär dienen, getötet oder schwer verletzt sind, bleiben 9,2 Millionen. Fast 600.000 von ihnen leben den Zahlen nach unter russischer Besatzung, mehr als 800.000 flohen in den Westen. Von den verbliebenen knapp acht Millionen wiederum bilden knapp 4,9 Millionen die theoretische Mobilisierungsreserve. Die anderen sind entweder untauglich, arbeiten in systemrelevanten Berufen oder sind als Väter von drei oder mehr Kindern vom Dienst befreit.
Doch diese 4,9 Millionen sind nicht gleichmäßig auf die Jahrgänge verteilt. Die Ukraine ist ein alterndes Land, das vor allem in den späten Neunzigern und frühen Nullerjahren eine demografische Krise erlebte. Die Folge: Kaum einem Jahrgang zwischen 1996 und 2006 gehören mehr als 200.000 Männer an, den meisten weniger. Zudem unterliegen viele von ihnen als Studenten der Mobilmachung nicht. Nur 434.000 Männer im Alter von 18 bis 25 wären demnach verfügbar. Eine Steigerung der Gesamtzahl um weniger als zehn Prozent.
Auch die USA dürften diese Zahlen kennen. Die Forderung nach einer Senkung des Rekrutierungsalters ist vor diesem Hintergrund irritierend. Denn vom Mobilisierungspotential älterer Jahrgänge hat die Ukraine etwa ein Fünftel ausgeschöpft. Eine ähnliche Quote, auf die unter 25-Jährigen projiziert, würde bedeuten: ungefähr 80.000 zusätzliche Soldaten. Das würde die Verluste nicht ausgleichen, aber einen hohen politischen Preis fordern. Es wäre sozialer und demografischer Sprengstoff.
Noch irritierender werden die Aufforderungen aus den USA durch das Versprechen, mit dem die Regierung in Washington es ergänzt. Die Ukraine müsse selbst über die Zusammensetzung ihrer Truppen entscheiden, sagte Außenministeriumssprecher Matthew Miller am Montag in einem Briefing. Doch die USA würden dann ihren Teil dazu beitragen: „Wir haben klargestellt, dass, wenn sie zusätzliche Truppen (…) bereitstellen, wir und unsere Verbündeten bereit sind, diese Truppen auszurüsten und sie für den Kampf auszubilden.“
Doch warum eigentlich erst dann? Vor wenigen Monaten hatte Selenskyj im Zuge seines Unterstützungsplans für sein Land vorgeschlagen, zehn ukrainische Brigaden – etwa 40.000 Soldaten – im Westen auszubilden und auszurüsten, etwa von größeren Nato-Staaten. Bis auf Frankreich, das derzeit eine Brigade trainiert und mit Waffen versorgt, hat kein Land den Vorschlag umgesetzt. 14 in diesem Jahr neu aufgestellte Brigaden existieren derweil nach ukrainischen Angaben vornehmlich auf dem Papier, weil die Waffen für sie nicht geliefert werden. Warum sich Letzteres erst verändern sollte, wenn die Rekruten jünger sind, ist kaum erklärbar.
Fraglich bleibt auch, ob eine Erhöhung der Truppenstärke wirklich der wichtigste Schritt zur Stärkung der ukrainischen Armee ist. Denn sie leidet an vielen Probleme, die von Offizieren und Militärbloggern immer wieder aufgezählt werden: Schlechte Abstimmung großer Verbände untereinander, fehlende Auswertung früherer Fehler, schleppender Bau von Verteidigungsanlagen. Hinzu kommen Verluste durch verspäteten Abzug aus kaum haltbaren Stellungen, Korruptionsskandale in Rekrutierungsbehörden und umstrittene Prioritäten.
Und Desertion. Laut einem Bericht des Portals ermitteln die Staatsanwaltschaften allein in diesem Jahr in 20.000 Fällen gegen Deserteure, doppelt so viel wie in den ersten beiden Kriegsjahren zusammengenommen. In mehr als 40.000 Fällen geht es um eigenmächtige Abwesenheit. Also um Soldaten, die nicht endgültig desertieren, aber ihren Dienstposten für eine begrenzte Zeit unerlaubt verlassen – etwa ihre Fronturlaube eigenmächtig verlängern oder versuchen, auf eigene Faust die Einheit zu wechseln. Die Regierung hat Ende November allen, die bis Ende des Jahres freiwillig zurückkehren, Straflosigkeit angeboten. Seit das Angebot steht, kamen zufolge 3.000 Soldaten ins Militär zurück. Und dennoch: Wenn fast jeder zehnte Soldaten zumindest vorübergehend desertiert, stellt sich die Frage, ob statt einer größeren nicht eher eine besser geführte Armee gebraucht wird.
Den Ruf eines Modernisierers der Armee hatte General Walerij Saluschnyj, bis Februar ukrainischer Militärchef und inzwischen Botschafter des Landes in London. Kurz vor seiner Entlassung durch Selenskyj hatte er einen Bedarf von bis zu einer halben Million zusätzlicher Soldaten angemeldet und einen Streit darüber mit dem Präsidenten öffentlich ausgetragen. Doch eine Mobilmachung der Jugend lehnt auch er ab. Die Jahrgänge der 18- bis 25-Jährigen müssten „maximal geschont“ werden, sagte er Anfang Oktober. „Das sind ganz andere Menschen, die unser Land retten werden.“ Denn: „Auch in 20 und in 30 Jahren brauchen wir eine Ukraine.“
Das Zitat: Sarkasmus statt Weihnachtsfrieden
Ungarns Regierungschef Viktor Orbán hatte schon zu Beginn der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft den Kontakt zu Wladimir Putin gesucht, reiste ohne Abstimmung mit der EU nach Moskau und hörte Putins Bedingungen für Waffenstillstandsgespräche an. Zum Ende seiner Amtszeit wiederholte der prorussische Politiker die Initiative: „Wir haben einen Weihnachts-Waffenstillstand und einen groß angelegten Gefangenenaustausch vorgeschlagen“, schrieb Orbán am Mittwoch auf X. Es sei „schade“, dass Selenskyj das „klar abgewiesen und ausgeschlossen“ habe. Russland bestätigte später ein Telefonat Orbáns mit Putin.
Die Reaktion aus Kyjiw ließ nicht lange auf sich warten. „Wie immer hat Ungarn nichts mit der Ukraine besprochen“, schrieb Dmytro Lytwyn, ein Kommunikationsberater aus Selenskyjs Stab. „Wie immer hat Ungarn uns nicht über seine Kontakte mit Moskau informiert. Wie immer hat die Ukraine Ungarn nicht autorisiert, sie auf irgendeine Art zu vertreten.“
Ähnlich deutlich wie sein Kommunikationsberater drückte sich der ukrainische Präsident aus – und zeigte sich von Orbáns Handeln vorbei an den EU-Partnern und der Ukraine sichtlich genervt. Mit Blick auf die Flucht des in Syrien gestürzten Machthabers Baschar al-Assad nach Moskau schrieb Selenskyj:
Die wichtigsten Meldungen: Trump, Luftangriffe und die Schattenflotte
- Bei einem der bislang größten Luftangriffe seit Kriegsbeginn hat Russland das ukrainische Energienetz nach Angaben aus Kyjiw mit 200 Drohnen und 93 Raketen und Marschflugkörpern angegriffen. Dabei wurden nach ukrainischen Angaben mehrere Kraftwerke beschädigt.
- In Paris hat sich Selenskyj mit Donald Trump und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron getroffen. Details zum Inhalt des Gesprächs sind kaum bekannt, es soll dabei auch um die Absicherung eines zukünftigen Waffenstillstands gegangen sein. US-Hilfen will Trump jedoch kürzen.
- Der Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz hat in Kyjiw die Aufhebung der Reichweitenbeschränkung für deutsche Waffen gefordert – und eine europäische Kontaktgruppe für eine US-unabhängige Unterstützung der Ukraine.
- Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) hat sich in Berlin mit Amtskollegen aus der Ukraine, Frankreich, Polen und weiteren Ländern getroffen – und zusammen mit ihnen „eiserne Sicherheitsgarantien“ für die Ukraine in Aussicht gestellt. Zu Überlegungen, in Zukunft eine Friedenstruppe in dem Land zu stationieren, äußerte sich die Außenminister in ihrer Erklärung nicht.
- Die EU hat im 15. Sanktionspaket gegen Russland 50 Schiffe der sogenannten russischen Schattenflotte auf die Sanktionsliste gesetzt. Russland nutzt diese Schiffe, um Sanktionen gegen den Ölexport zu umgehen. Die Maßnahme trifft jedoch nur einen kleinen Teil der Schattenflotte: Sie umfasst je nach Schätzung 600 bis 1.000 Frachter.
- Der russische Inlandsgeheimdienst FSB hat in Nischni Nowgorod einen 21-jährigen Deutschen festgenommen. Ihm wird die Planung von Sabotageakten im Auftrag ukrainischer Geheimdienste vorgeworfen. Der Mann hat auch die russische Staatsbürgerschaft.
Waffenlieferungen und Militärhilfen: F-16-Jets, Ersatzteile, Munition
- Die Ukraine hat aus Dänemark weitere Kampfjets des Typs F-16 erhalten. Eine Zahl nannten beide Länder nicht. Insgesamt soll die Ukraine aus Dänemark, Belgien, den Niederlanden und Norwegen fast 100 F-16-Flugzeuge bekommen, inzwischen dürften knapp 20 in der Ukraine sein.
- Das US-Außenministeriumhat den Verkauf von Wartungstechnik für F-16-Jets in die Ukraine im Wert von 266 Millionen Dollar genehmigt. Die USA haben der Ukraine keine Flugzeuge dieses Typs zugesagt, genehmigten aber als Herstellerland die europäischen Lieferungen.
- In zwei Paketen binnen einer Woche haben die USA zudem Waffen und Munition im Wert von 1,5 Milliarden Dollar geliefert. Die Pakete umfassten unter anderem Boden-Boden-Raketen, Artilleriemunition, Gefechtsfahrzeuge, Panzerabwehrsysteme und Ersatzteile für schwere Waffensysteme.
- Das kanadische Parlament hat umgerechnet 512 Millionen Euro für Militärhilfen an die Ukraine im kommenden Jahr gebilligt.
Unterm Radar: Weniger Bomben durch westliche Raketen?
Angriffe auf russisches Gebiet mit weitreichenden westlichen Waffen: Kritiker bezeichneten die Erlaubnis dazu als Eskalation. Die Ukraine wiederum sieht sie als notwendige Verteidigungsmaßnahme, etwa, um russische Militärflugplätze in Grenznähe anzugreifen. Als Putin mit dem erstmaligen Einsatz einer experimentellen Mittelstreckenrakete auf die ersten ukrainischen Angriffe reagierte, sahen sich die Skeptiker bestätigt.
Nun aber könnte sich die Ukraine bestätigt fühlen. Wie das exilrussische Portal berichtet, setzte Russland zuletzt deutlich weniger Gleitbomben ein als bisher. bezieht sich dabei auf Beobachtungen von Militärbloggern, die ihrerseits Angaben des Generalstabs in Kyjiw analysierten.
Demnach wurde die Ukraine im Sommer im Schnitt mit etwa 100 s0lcher Bomben pro Tag angegriffen. Seit Mitte November ist die Zahl jedoch stark rückläufig und hat sich inzwischen auf weniger als 50 pro Tag halbiert. Ein möglicher Grund: Die Verlegung von Kampfjets auf entlegene Militärflugplätze außerhalb der Reichweite westlicher Raketen, die von der Ukraine eingesetzt werden. Das wiederum erschwert laut dem -Bericht die Kampfeinsätze, die nun länger und komplizierter würden.
Ob es sich um eine direkte Folge der gelockerten Auflagen für die Ukraine handelt oder sich damit nur zeitlich überschneidet, ist nicht sicher. Die Entwicklung entspricht in jedem Fall dem, was sich die Ukraine von dem Einsatz der westlichen Raketen erhofft hat.
Über den Tellerrand: Ukrainische Fehler und ein getöteter Soldat
- : Der ukrainische Militärchef von 2014 bis 2019, Wiktor Muschenko, kritisiert mehrere Entscheidungen des derzeitigen Kommandos, etwa bei der Planung der gescheiterten Sommeroffensive 2023.
- Angehörige ethnischer Minderheiten sind in der russischen Invasionsarmee deutlich überrepräsentiert. Wie und weitere russische Medien berichten, ist im Kampf erstmals ein Angehöriger der Volksgruppe der Kereken gestorben. Der ostsibirischen Ethnie gehören in ganz Russland nur etwa 20 Menschen an.