DIE ZEIT: Herr Ther, beschriebene Musik sei wie ein erzähltes Mittagessen, sagte der Burgtheaterdichter Franz Grillparzer. Sie haben mit ein ganzes Buch über die Musik des Habsburgermonarchie geschrieben. Wenn Sie dieses Reich mit drei Werken beschreiben müssten – mit welchem würden Sie beginnen?
Philipp Ther: Mit dem Den kennt man aus dem Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker. Aber nur wenige wissen, dass er auch für kriegerische Zwecke eingesetzt wurde: Am 27. Juni 1866 wurden in der Schlacht bei Trautenau die österreichischen Soldaten zu dieser Musik in den Krieg gegen die Preußen hineingetrieben.
ZEIT: Musik auf dem Schlachtfeld – das dürfte mit einigem Aufwand verbunden gewesen sein.
Ther: Auf dem Hügel, auf dem die Schlacht stattfand, marschierten zwei Regimentskapellen – eine links, die andere rechts. Dann stürmten die Soldaten mit „Heil“-Rufen auf die Preußen los; fast 4.800 fanden dabei den Tod. Als Historiker kann ich den Marsch daher nicht mehr unbefangen hören; er hat, wenn man so will, seine Unschuld verloren. Letztlich soll mein Buch aber genauso dazu dienen, diese manchmal dunklen Seiten der Musik zu unterstreichen. Und selbstverständlich die gewaltvollen Seiten dieser Monarchie. Imperien beruhen immer auf militärischer Gewalt, das sollte man nicht vergessen. Das Militär ist konstitutiv für ein Großreich. Ich wollte kein habsburgnostalgisches Buch schreiben – auch wenn die Musik selbst natürlich diese Wirkung haben kann.
ZEIT: Welches Stück käme nach dem ?
Ther: Eines aus dem breiten Repertoire des Habsburg-Pop. Mit diesem Begriff habe ich das reichhaltige Schaffen an populärer Musik seit Mozart zusammengefasst. Dazu zählen auch die weltbekannten Walzer, allen voran . Ich würde aber einen der ganz frühen Werke heranziehen, ein Stück aus den von Franz Pecháček, dem ersten gedruckten Wiener Walzerkompendium.
ZEIT: Und was wäre das dritte Stück?
Ther: Das Streichquartett e-Moll von Bedřich Smetana. Es trägt den Titel und das ist ganz wörtlich gemeint: Smetana hat hier die Stationen seines Lebens in Musik gefasst. Es gibt einen alten romantischen Mythos, wonach Musik mehr ausdrücken kann als den rein musikalischen Inhalt. Auf dieser Überzeugung beruht mein Buch – aus manchen Stücken lässt sich viel mehr herauslesen als das, was die Komponisten in die Noten geschrieben haben.
ZEIT: Also mehr als ein erzähltes Mittagessen?
Ther: Es gibt eine lange Tradition von Komponisten, die auf diese Weise ihre Gegenwart verarbeitet haben – beginnend mit Beethoven und Liszt bis hin zu Dvořák, Mahler und Janáček. Ihnen ging es nicht nur um Stimmungen und Gefühlslagen, sondern auch konkrete Ereignisse, Erlebnisse und längere Prozesse – bis hin zur Nationsbildung.
ZEIT: Sie sagen also, dass sich die Geschichte des Habsburgerreichs ganz konkret in der Musik widerspiegelt?
Ther: Den Begriff „widerspiegeln“ benutze ich als Metapher nicht so gern – ich begreife die musikalischen Werke nicht nur als Ausdruck ihrer Zeit, sondern eher als Motor der Geschichte, weil sie historische Veränderungen oft schon vorausgeahnt oder mit vorangetrieben haben.
ZEIT: Wie kamen Sie als Osteuropa-Historiker darauf, sich so intensiv für Musik zu interessieren?
Ther: Das begann mit einer Lehrveranstaltung vor etwa zehn Jahren. Ich bin in meiner Professur an der Universität Wien unter anderem zuständig für die nichtdeutschen Länder des Habsburgerreiches. In meiner Vorlesung wollte ich nicht 90 Minuten lang nonstop sprechen – und habe deshalb gezielt Musik eingesetzt und die Studierenden gefragt: Was hören Sie da heraus, worum könnte es hier gehen? Das habe ich immer weiter verfeinert und dadurch viel neue Musik entdeckt. Insgesamt habe ich für das Buch mehr als 200 Stücke zurate gezogen.