Mit hingetupften Stiefelstupsern

Man könnte vor jedem Spiel des FC Barcelona mit dem Freistoßspray den Sektor des Spielfeldes eingrenzen, in dem sich die Yamal-Magie ereignen wird: halbrechts, 15 bis 20 Meter vor dem gegnerischen Tor, streckt sich der Raumbogen hin, in den er hineinrasen, -schlüpfen, -schlendern wird. Der 17-jährige spanische Nationalspieler hat immer etwas von einem Schlenderer, einem Rasanzschlenderer, selbst dann, wenn er, wie es gestern geschah, mit einem Schuss seiner Mannschaft die Meisterschaft bringt.  

2:0 gewann der FC Barcelona gegen den Lokalrivalen Espanyol Barcelona (der auf dem 16. Tabellenplatz schmort), das erste Tor schoss er, aus 17 Metern, selbst, das zweite bereitete er vor. Und im Grunde läuft jedes Spiel des FC Barcelona auf diesen Moment zu, da Lamine Yamal den Ball mit hingetupften Stiefelstupsern durch ein Cluster von Nadelöhren (gegnerischen Abwehrkonstellationen) fädelt und bugsiert, gern direkt an der Außenlinie, ja manchmal sogar die Kreide der Seitenlinie aufwirbelnd – und dann Ball und eigenen Körper in Richtung Feldmitte jagt. Man könnte denken, der ganze Abend sei um diesen herrlichen Spielzug herumgebaut, so wie ein Park um ein Lustschlösschen herumgebaut ist.

Yamal ist ein Zauberer, dessen Kunst sich erst in der Großaufnahme ganz entfaltet, in der Feinanalyse seiner Sarrasani-Mikrobewegungen: ein in Biegungen und Windungen tanzender Selbstentfesselungskünstler, der das umgebende Gestrüpp der Widersacher in rasendem Tempo nach rettenden Öffnungen, Lichtungen, Tunnels absucht. Und der dann das tut, was sein großer Vorgänger Arjen Robben – etwas eckiger und mechanischer – auch immer getan hatte: Er zieht von rechts, den Ball treibend, eine Diagonalschneise in den Raum, die Zeit scheint sich dabei geradezu diabolisch zu verlangsamen, zumindest die Spieler und Fans der gegnerischen Mannschaft müssen es so empfinden, denn nun sucht Yamal, immer noch in höchstem Tempo und in aller Ruhe, die passende Schießscharte im Abwehrverband, durch die er, mit links, den Ball ins Tor jagen wird. In einem ganz bestimmten, anmutigen Bogen, den man wohl den Yamal-Bogen nennen muss.

Längst werden seine Bewegungen, seine analysiert und durch die Zeitlupe gezogen mit derselben Ehrfurcht, mit der man seinerzeit den von Michael Jackson betrachtet hat – voller Unglauben, als sei diesem jungen Mann ein entscheidender Schlag im Kampf des Menschen gegen die Schwerkraft gelungen. Er scheint auf der Abwehraggression der Gegner geradezu zu surfen. Immer behält er dabei etwas Fröhliches, Verspieltes: Wie Cristiano Ronaldo kann er den Ball durch die Reihen der Gegner hindurch spazieren führen, als wäre das Spielzeug sein in ihn verliebtes, nur ihm gehorchendes Hündchen. An Lionel Messi erinnert seine unglaubliche Ballsicherheit, allerdings ist er eleganter und lässiger als der etwas torpedohafte Argentinier. Und was seine Körperbeherrschungskünste angeht, ähnelt er stark seinem deutschen Beinahe-Namensvetter Jamal Musiala.

Dabei ist Lamine Yamal auf mustergültige Weise mannschaftsdienlich. Der Gedanke des Spielmachers, der ihm den Ball zuschlenzt, durchsteckt, vorlegt, kommt in seinen Bewegungen zur Vollendung: Yamal, weltberühmter Jungchef eines Zustelldienstes für göttliche Spielzüge.

Allerdings, ohne Gefahren ist sein Leben nicht. Vor dem Spiel, das ihn und Hansi Flicks Mannschaft zu spanischen Meistern gemacht hat, hatte es einen Unfall gegeben. Eine Frau war mit ihrem Auto in eine Menschenmenge gefahren, mehrere Menschen erlitten Verletzungen, die zum Glück nicht schwerwiegend waren. Und nach dem Spiel regneten Zorngeschosse der Fans von Espanyol auf den Rasen, es kam zu Scharmützeln zwischen Spielern der beiden Vereine, und sicherheitshalber schalteten die Stadionhausmeister die Rasensprenkler an, welche wutlöschend ihre Ladung zwischen die Streithähne sprühten. Es zischte ein wenig, als Wasser und Zorn aufeinandertrafen – aber da war Lamine Yamal schon weg. Er war gleich nach dem Schlusspfiff in den Stadionkatakomben verschwunden, sicherheitshalber. Sein Enthusiasmus und seine Glieder, man verzeihe den Kalauer, sind nämlich noch ungebrochen – und wir hoffen, dass das so bleibt.

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