Er war ein Papst der Überraschungen, bis zum letzten Atemzug. Sogar seinen Tod umgibt eine sanfte Wolke von Verblüffung: Hat er nicht eben noch JD Vance empfangen, den obersten Katholiken des Teams Trump? Und am Sonntag im Rollstuhl auf dem Petersplatz den Ostersegen Urbi et orbi gesprochen? Am Montag ist er tot – und hat damit den letzten Kampf seines Pontifikats eingeläutet: Wie groß, wie wirkmächtig war der Überraschungskünstler auf dem Stuhl denn nun als Papst?
Nicht weil er seine Reformen vollendet hätte, sondern weil er sie angestoßen hat, war er stark. Seine Wirkung, ja seine Macht verstand der erste Lateinamerikaner an der Spitze der Kirche auszuspielen, indem seine Überraschungen immer auch politisch angelegt waren: Seht her, ich bin anders, seht her, Kirche kann anders sein – eine Kirche der offenen Arme.
Aus den überraschenden Gesten bildeten sich beinahe kleine Heiligenlegenden moderner Tage: Da tauchte der Heilige Vater persönlich in einem Optikergeschäft in Rom auf, um sich eine neue Brille auszusuchen. Da fuhr der Stellvertreter Christi auf Erden beim Staatsbesuch in den USA im schwarzen Fiat-Kleinwagen vors Weiße Haus statt in der Limousine. Und zahllos waren seine Überraschungsanrufe bei Katholiken, von kranken Kindern bis zu Bischöfen, die unvermutet Franziskus am Hörer hatten.
Doch so hingebungsvoll, wie er als Seelentröster war, und so
ausdrucksstark, wie er als geistliches Oberhaupt auftreten konnte, so sehr war
Franziskus zugleich der Regent einer Art Weltreich mit einer Milliarde
Katholiken und riesigen Besitzungen, beträchtlichem Einfluss und ebenso großem
Reformbedarf. Franziskus‘ Ziel kann man in seinen Gesten lesen: Er wollte eine
Kirche, die näher am Menschen stand. Sie sollte sich als Lazarett der Bedrängten
verstehen, nicht als Kadettenanstalt der Rechtgläubigen. Um so eine Veränderung
durchzusetzen, muss ein Papst Politiker werden. Wie erfolgreich war Franziskus darin?
Der organisierte Katholizismus lässt sich in etwa so schwer verändern,
wie das mit dem organisierten Kommunismus der Fall war. Die Parallele ist nicht
ganz zufällig. Katholizismus wie Kommunismus streben danach, zweierlei
gleichberechtigt zu wahren: eine Ideologie ebenso wie eine Herrschaftsform
oder, noch einfacher ausgedrückt, Geist wie Macht. Dass man gerade im ebenso
katholischen wie (dereinst) oft kommunistischen Italien um diese Parallelität
wusste, zeigt der Filmklassiker Hier raufen nicht
zufällig der kommunistisch gesonnene Dorfbürgermeister und der volksfromme
Pfarrer um die Vorherrschaft am Ort und den Zuspruch der Dörfler.
Der staatlich verfasste Kommunismus setzt seit seinen
Gründungsheiligen Marx, Engels und Lenin auf ein Ideengebäude, um die Welt in
seinem Einflussbereich nach festen Vorstellungen zu ordnen. Die katholische
Kirche mit ihren Aposteln wie der Gemeinschaft der Heiligen erhebt ihrerseits
den Anspruch, ihr irdisches Handeln an höheren, ja himmlischen Maximen
auszurichten. So ungenügend die Umsetzung der Ideale in beiden Systemen den
Außenstehenden vorkommen mag, so hoch sind dennoch darin die Hürden für Veränderungen: Sie müssen stets einem ideellen wie einem funktionalen Anspruch genügen.
Wie reformiert man ein Weltreich? Auch wenn das der Katholiken
anders verfasst ist, als es das Sowjet-Imperium war, so müssen seine Regeln wie
Regeländerungen eben doch einerseits als Gedankenkonstrukt standhalten und
andererseits ein weltweit verzweigtes Institutionengebäude stabilisieren,
bestehend aus Kirchen, Schulen, Krankenhäusern und Verwaltungen, aus Priestern,
Angestellten und Gläubigen.
Einer Kirche wie der katholischen kann es darum nie genügen,
Dinge einfach anders zu machen – wie es Kritiker von außen ihr gerne nahelegen –, sondern sie muss immer zugleich Rechenschaft darüber ablegen, wie das Neue
sich zum Alten verhält, wie es also die Tradition fortschreibt, selbst und
gerade, wenn es die Tradition umschreibt.
Der deutsche Theologen-Papst Benedikt XVI. war darum stets
bemüht, den großen Reformakt des sogenannten Zweiten Vatikanischen Konzils der
1960er-Jahre, mit dem etwa die lateinische Messe durch Gottesdienste in der
jeweiligen Landessprache ersetzt wurde, als eine Fortentwicklung zu deuten,
nicht als einen Bruch mit der Tradition: Er sah im Zweiten Vatikanum eine „Hermeneutik
der Kontinuität“ am Werk.
Nun hat es unter Papst Franziskus an bischöflichen
Großversammlungen im Vatikan nicht gemangelt, doch in ihrer Absicht wie Wirkung
sind die Treffen weit hinter dem Vatikanum von vor 60 Jahren zurückgeblieben.
Dass ihm eine grundlegende Wende im Vatikan gelungen sei, das hat nicht einmal
der Papst selbst für sich beansprucht. Was also fehlte Franziskus, um zum
großen Reformer zu werden?
Als der Kommunismus in den 1980er-Jahren weltweit in die Krise
geriet, konkurrierten zwei Ansätze miteinander, dieses Weltreich aus Macht und
Ideologie zu reformieren: der Gorbatschow-Weg von Moskau über Prag bis
Ost-Berlin, und der Weg von Deng Xiaoping, Herr über rund eine Milliarde
Chinesen. Franziskus hat gegen die Krise seiner Kirche einen dritten Kurs
gewählt, den Franziskus-Weg sozusagen.